Esoterische Analyseder Chymischen HochzeitChristiani Rosencreutz anno 1459von Jan van Rijckenborgh
Hier lesen Sie den siebenteiligen Urtext des Einweihungsromans von Johann Valentin Andreae aus dem Jahr 1616. Innerhalb des Textes finden Sie ausgewählte Kommentare aus der esoterischen Analyse von Jan van Rijckenborgh sowie Links zu weiterführenden Artikeln, die von Schülern des Lectorium Rosicrucianum verfasst wurden.
Die Handlung verläuft in sieben Tagen – hier der erste Tag und das Vorwort.
Um dem Online-Leser die Orientierung zu erleichtern, wurden in den Urtext Zwischenüberschriften eingefügt.
Die Buchausgabe in zwei Bänden ist erschienen bei:
Rozekruis Pers – Haarlem – Niederlande
Teil 1: Dritte, überarbeitete Ausgabe 1997
Teil 2: Zweite, überarbeitete Ausgabe 1991
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieser Texte darf in irgendeiner Form durch Druck, Photokopie, elektronische Medien oder irgendein anderes Verfahren ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages reproduziert werden.
„Es ist selbstverständlich, daß wir bei dem Entschluß, eine Erklärung des Buches Die alchimische Hochzeit des Christian Rosenkreuz zu veröffentlichen, mit unseren Gedanken bei Johann Valentin Andreae weilen, dem Verfasser dieses Werkes der klassischen Rosenkreuzer. Andreae und seine Arbeit tragen das Kennzeichen eines Fackelträgers, dessen Licht auch jetzt noch nach allen Seiten strahlt. Und immer, wenn ein neues Licht im Dienst des großen menschheitsbefreienden Werkes in die Welt hinausgetragen werden muss, wird es an der niemals verlöschenden Flamme es uralten Kandelabers angezündet und dieser hinzugefügt.
Dieser Tatsache eingedenk, sind wir von inniger Dankbarkeit erfüllt, daß wir jetzt, da die Zeit gekommen ist, wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte die Heilsbotschaft, der Johann Valentin Andreae in seinem Werk auf sinnreiche Weise Gestalt verlieh, ihrer Hüllen entledigen dürfen. Wir bieten dieses Werk allen jenen an, die sich nach der lebendigen Kenntnis über den konkreten Pfad der Erlösung sehnen und sich ihrer würdig erweisen wollen.
Mögen es sehr, sehr viele sein, eine Schar, die niemand zählen kann.“
An einem Abend vor dem Ostertag saß ich an einem Tisch und hatte mich meiner Gewohnheit nach mit meinem Schöpfer in einem demütigen Gebet genügend besprochen und über viele große Geheimnisse – deren mich der Vater des Lichtes in seiner Majestät nicht wenige hatte sehen lassen – nachgedacht.
Kommentar 1: Die Auferstehung im neuen Lebensfeld
Die Erzählung beginnt an einem Abend vor Ostern. Damit muss jede derartige Erzählung beginnen. Ostern ist das Auferstehungsfest. Es wird um den 21. März gefeiert, wenn die Sonne in das Zeichen des Frühlings eintritt. Man kann deshalb dieses Auferstehungsfest allein als eine Wiedererstehung der Natur sehen. Der Winter ist vorüber, der Frühling ist gekommen ... C.R.C. spricht nicht einmal über diese alltägliche Auferstehung; er ist auf die Auferstehung im neuen Lebensfeld gerichtet, auf das ursprüngliche Leben ... Wenn Sie dieses neue Verlangen kennen, etwas davon besitzen, dann wissen Sie, dass es auch ein Suchen gibt, um dieses Verlangen zu befriedigen. (S. 68)
Nun wollte ich mir mit meinem lieben Osterlamm einen ungesäuerten, reinen Kuchen in meinem Herzen zubereiten, da erhob sich plötzlich ein solch grausamer Wind, dass ich meinte, es würde der Berg, in den mein Häuschen gegraben war, vor der großen Gewalt zerspringen müssen. Da mich aber solches vom Teufel, der mir manches Leid angetan hatte, nicht überraschte, fasste ich Mut und blieb in meiner Meditation, bis mich – was ich nicht gewohnt war – jemand am Rücken berührte, wovon ich dermaßen erschrak, dass ich mich kaum umzusehen wagte, jedoch blieb ich so zuversichtlich, wie menschliche Schwachheit bei dergleichen Dingen sein kann. Und als mich jemand wiederholt am Rock zupfte, sah ich mich um, da war es ein schönes, herrliches Weib, dessen Kleid ganz blau und wie der Himmel prächtig mit goldenen Sternen übersät war. In der rechten Hand trug es eine goldene Posaune, darauf ein Name eingraviert war, den ich wohl lesen konnte, der mir aber später zu offenbaren verboten wurde.
In der linken Hand hatte die Frau ein großes Bündel Briefe in allerlei Sprachen, die sie, wie ich später erfuhr, in alle Länder tragen musste. Sie hatte aber auch große, schöne Flügel, überall mit Augen versehen, mit denen sie sich aufschwingen und schneller als ein Adler fliegen konnte. Ich hätte wahrscheinlich noch mehr an ihr bemerken können. Aber weil sie so kurz bei mir blieb und ich noch voller Schreck und Verwunderung steckte, muss ich es so sein lassen. Denn sobald ich mich umgewandt hatte, blätterte sie ihre Briefe hin und her und zog endlich ein kleines Brieflein hervor, welches sie mir mit großer Ehrerbietung auf den Tisch legte, worauf sie ohne ein einziges Wort von mir wich. Im Aufschwingen aber stieß sie so kräftig in ihre schöne Posaune, dass der ganze Berg davon widerhallte und ich fast eine Viertelstunde danach noch mein eigenes Wort kaum hören konnte.
Kommentar 2: Die magnetische Berührung
Diese Berührung ist wie ein Ruf. Wie ein Posaunenstoß. In vielen heiligen Büchern wird von einem solchen Ruf gesprochen. Wir lesen dort, dass Gottes Stimme im Sturm ertönt, bei Blitz und Donnerschlag oder anderen Naturgewalten. Das ist dann immer die Gewalt dieser besonderen magnetischen Berührung, derzufolge der Kandidat das Gefühl der Zerrüttung hat, weil die Strahlungen, die durch ihn vibrieren, zu keinem einzigen Organ in ihm passen. (S. 73)
In diesem unerwarteten Abenteuer wusste ich mir Armen selbst weder zu raten noch zu helfen, fiel daher auf meine Knie und bat meinen Schöpfer, Er möge mir nichts gegen mein ewiges Heil widerfahren lassen. Darauf ging ich mit Furcht und Zittern zu dem Brieflein, und das war nun so schwer, dass es kaum schwerer sein könnte, wenn es aus purem Gold gewesen wäre. Als ich es dann eifrig betrachtete, fand ich ein kleines Siegel, mit dem es verschlossen war. Darauf war ein feines Kreuz geprägt mit der Inschrift: In hoc signo + vinces.
Sobald ich nun dieses Zeichen entdeckt hatte, war ich getröstet, denn mir war bewusst, dass ein solches Siegel dem Teufel nicht angenehm und bei ihm auch nicht gebräuchlich sei. Daher öffnete ich das Brieflein vorsichtig. Darinnen fand ich auf blauem Feld mit goldenen Buchstaben folgende Verse geschrieben:
Heut', heut', heut'
ist des Königs Hochzeit.
Bist du dazu geboren,
von Gott zur Freud' erkoren,
darfst auf den Berg du gehen,
auf dem drei Tempel stehen,
und dort die Geschicht' besehen.
Halt Wacht!
Dich selbst betracht'!
Wirst du nicht fleißig baden,
kann dir die Hochzeit schaden.
Schaden hat, wer von hier weicht,
hüte sich, wer ist zu leicht.
Darunter stand:
Sponsus et Sponsa, Bräutigam und Braut.
Kommentar 3: Die Signatur der Einladung
Die Darstellung, als ob C.R.C. einen Brief empfangen hat, braucht Ihnen nicht seltsam zu erscheinen; denn die Bibel ist voll von ähnlichen Darstellungen, in denen Gott, die Gnosis, gleichsam »in die Herzen geschrieben hat«. So sagt Paulus im zweiten Brief an die Korinther: »Ihr seid ein Brief Christi« und spricht von »fleischernen Tafeln des Herzens«. ... Christian Rosenkreuz hat also seinen Brief empfangen. Während dessen Bedeutung allmählich in ihn eindringt, bricht ihm der kalte Schweiß aus. Er erkennt die Signatur der Einladung. Er wusste schon seit geraumer Zeit, auf welche Weise sie zu ihm kommen würde: durch Sehnsucht nach der Gnosis, indem er sein Herz für sie öffnete. Jetzt aber, da sie gekommen ist, fühlt er sich in hohem Maß bestürzt. (S. 74)
Als ich nun diesen Brief gelesen hatte, glaubte ich, ohnmächtig zu werden. Die Haare standen mir zu Berge, und der kalte Schweiß lief mir den ganzen Leib herab. Denn obwohl ich merkte, dass dieses die angekündigte Hochzeit war, die mir vor sieben Jahren in einer Vision vorhergesagt wurde, auf die ich auch schon so lange Zeit mit großem Verlangen gewartet hatte und die ich schließlich durch eifriges Berechnen und Nachrechnen meiner Planetenstellungen gefunden hatte, erwartete ich doch niemals, dass es mit so schweren und gefährlichen Bedingungen zugehen würde. Hatte ich doch zuvor gemeint, ich brauchte nur so bei der Hochzeit zu erscheinen und würde ein willkommener und lieber Gast sein.
Jetzt aber wurde ich auf göttliche Vorsehung verwiesen, deren ich keinesfalls sicher war. So entdeckte ich auch bei mir selbst, je mehr ich mich erforschte, dass in meinem Kopf nichts als großer Unverstand und Blindheit in geheimen Dingen herrschte und dass ich auch nicht die Dinge verstand, die mir unter den Füßen liegen und mit denen ich täglich umgehe. Wie sollte ich zur Erforschung und Erkenntnis der Geheimnisse der Natur geboren sein, da meiner Meinung nach die Natur überall einen tauglicheren Jünger finden könnte, um ihm ihren so kostbaren, wenn auch zeitlichen und vergänglichen, Schatz anzuvertrauen. So entdeckte ich auch, dass mein Leib und äußerlich guter Lebenswandel sowie die brüderliche Liebe zu meinem Nächsten auch nicht recht gereinigt und geläutert waren.
Ebenso zeigte sich noch des Fleisches Trieb, dessen Sinn nur auf hohes Ansehen und weltliche Pracht gerichtet war und nicht auf das Wohlbefinden des Mitmenschen. Und immer dachte ich, wie ich durch solche Kunst in kurzer Zeit meinen Nutzen so trefflich fördern könnte, stattliche Gebäude errichten, einen unsterblichen Namen in der Welt erwerben und was dergleichen fleischliche Gedanken mehr sind.
Besonderns aber bekümmerten mich die dunklen Worte von den drei Tempeln, die ich mir nicht erklären konnte. Ich könnte es vielleicht auch jetzt noch nicht, wenn es mir nicht auf wunderbare Weise geoffenbart worden wäre.
Wie ich nun so zwischen Furcht und Hoffnung schwebte, mich selbst immer wieder untersuchte, aber stets nur meine Schwäche und Unzulänglichkeit fand, mir selbst nicht helfen konnte und vor dem genannten Auftrag heftig erschrak, schlug ich schließlich meinen gewohnten und sichersten Weg ein, legte mich nach vollendetem ernsten und eifrigen Gebet in mein Bett: Möge doch mein guter Engel nach göttlicher Fügung erscheinen, um mir in meiner Unsicherheit zu helfen, wie es vorher schon häufiger geschehen war, was denn auch, Gott sei gelobt, zu meinem Besten und meinem Nächsten zu treuer und herzlicher Warnung und Besserung geschah.
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Der Traum des Christian Rosenkreuz
Denn kaum schlief ich, da kam es mir vor, als läge ich in einem finsteren Turm zusammen mit zahllosen anderen Menschen, mit schweren Ketten gefesselt. Ohne einen Lichtschein wimmelten wir wie die Bienen durcheinander, so dass der eine dem anderen die Trübsal noch erschwerte. Obwohl weder ich noch einer der anderen das Geringste sehen konnte, hörte ich doch immer, dass der eine versuchte, sich über den anderen zu erheben, wenn seine Ketten oder Fesseln auch nur ein wenig leichter waren, abgesehen davon, dass keiner von uns den anderen viel voraus hatte, denn wir waren alle arme Tröpfe.
Wie ich nun mit den anderen in solcher Trübsal eine gute Weile verharrte und immer einer den anderen einen Blinden und Gefangenen schalt, hörten wir endlich das Blasen vieler Trompeten. Auch wurde die Trommel dazu so kunstvoll geschlagen, dass es sogar uns in unserem Elend erquickte und erfreute. Während dessen wurde der Deckel oben auf dem Turm aufgehoben und ein wenig Licht zu uns hereingelassen. Da hätte man uns erst recht durcheinanderpurzeln sehen können. Alles ging drunter und drüber. Und der, der sich zu hoch erhoben hatte, musste den anderen wieder unter die Füße geraten. Kurzum, jeder wollte der Oberste sein. Und auch ich selbst zögerte nicht, sondern arbeitete mich trotz meiner schweren Ketten unter den anderen hervor und zog mich an einem Stein hoch, den ich erreichen konnte. Aber auch dort wurde ich wiederholt von den anderen angegriffen, wogegen ich mich so gut ich konnte mit Händen und Füßen wehrte. Wir meinten, dass wir alle freigelassen werden sollten.
Kommentar 4: Selbsterkenntnis durch das Licht
Alle, die in dieser Bedrängnis sind, handeln gleich. Aber es entsteht doch durch dieses Ringen eine Erschöpfung und ... eine Art Reinigung im Sinn einer Blutarmut. Das Blut verliert etwas von seinen Leidenschaften, und ein blutarmer Mensch ist ziemlich empfindsam ... Die Empfindsamkeit nimmt im gleichen Maß zu, wie die Erschöpfung größer wird. Es entwickelt sich eine Empfänglichkeit für das neue Licht, was sich durch Sehnsucht oder Verbitterung im Blut äußert, und in diesem Licht erkennt man den Zustand, in dem man sich befindet, noch besser als je zuvor. (Jan van Rijckenborgh: Alchimische Hochzeit Band 1, S. 84)
Es kam jedoch ganz anders. Denn nachdem die Herren, die oben von der Öffnung des Turms auf uns herabsahen, sich ein wenig an dem Zappeln und Winseln ergötzt hatten, befahl uns ein alter, eisgrauer Mann, still zu sein. Kaum war das geschehen, begann er, soweit ich es behalten habe, wie folgt zu sprechen:
Wenn es sich nicht erhoben hätte,
das arme menschliche Geschlecht,
wäre ihm viel Gutes geboten
von meiner Mutter recht.
Weil es aber nicht will folgen,
bleibt es in solchen Sorgen
und muss gefangen sein.
Doch will meine liebe Mutter
anrechnen ihre Unart nicht.
Lässt von ihren schönen Gütern
vieles kommen ans Licht.
Es geschieht jedoch nur selten,
damit sie etwas gelten.
Sonst hält man's für ein Gedicht.
Darum dem Fest zur Ehre,
das wir heute feiern nun,
dass man ihre Gnad' vermehre,
will ein gutes Werk sie tun:
Das Seil wird man herunterlassen,
und wer es kann erfassen,
soll werden freigelassen.
Kaum hatte er das ausgesprochen, da befahl die alte Dame ihren Dienern, das Seil siebenmal in den Turm hinabzulassen und herauszuziehen, wer daran hängen bleibe.
Wollte Gott, ich könnte genügend beschreiben, welche Unruhe daraufhin unter uns ausbrach, denn jeder wollte das Seil ergreifen, und doch hinderte nur der eine den anderen. Es wurde aber nach sieben Minuten mit dem Glöckchen ein Zeichen gegeben. Darauf zogen die Diener beim ersten Mal vier heraus. Ich konnte bei weitem noch nicht an das Seil gelangen, weil ich mich, wie ich meinte, zu meinem größten Unglück an der Wand des Turms auf einen Stein begeben hatte und daher das Seil, das in der Mitte herabgelassen wurde, nicht ergreifen konnte.
Das Seil wurde zum zweiten Mal herabgelassen. Aber weil manchem die Ketten zu schwer und die Hände zu schwach waren, konnte er sich nicht am Seil halten und riss manchen, der sich vielleicht noch hätte halten können, mit hinab. Ja, es wurde sogar noch mancher von einem anderen herabgerissen, der selbst nicht dahin gelangen konnte. Wir waren also in unserem großen Elend noch neidisch aufeinander. Jene aber bedauerte ich selbst am meisten, deren Gewicht so groß war, dass es ihnen die Hände aus dem Leib riss und sie nicht hinaufkommen konnten.
So geschah es, dass bis zum fünften Mal sehr wenige herausgezogen wurden. Denn sobald das Zeichen gegeben wurde, waren die Diener mit dem Hinaufziehen so schnell, dass die meisten übereinanderfielen. Beim fünften Mal wurde das Seil sogar ganz leer hinaufgezogen, so dass die meisten und auch ich selbst an unserer Befreiung zweifelten und Gott anriefen, Er möge sich unser erbarmen und uns, wenn möglich, aus dieser Finsternis erlösen, worauf Er auch etliche unter uns erhörte. Denn als das Seil zum sechsten Mal kam, hängten sich etliche fest daran. Und da das Seil beim Hinaufziehen hin- und herschwankte, ist es, vielleicht nach göttlichem Willen, zu mir gekommen. Ich erhaschte es schnell, so dass ich oben über allen anderen saß und so endlich wider Erwarten herauskam. Das erfreute mich so, dass ich die Wunde, die ich beim Hinaufziehen durch einen spitzen Stein am Kopf erhielt, nicht empfand.
Kommentar 5: Die Bedeutung der Wunde am Kopf
Christian Rosenkreuz wurde also mit dem sechsten Seil emporgezogen, und uns befremdet es, dass er dabei durch einen spitzen Stein eine Wunde am Kopf erhielt, die er erst bemerkte, als er mit den Übrigen beim Emporziehen des siebten und letzten Seiles half und das Blut infolge der Anstrengung über seine Kleider tropfte. Wenn Sie von dem neuen magnetischen Licht der Geistesschule im Herzatom getroffen werden ... , wird eine solche Wunde am Kopf bereits eine Loslösung von den normalen dialektischen, magnetischen Kraftlinien bewirken. Sie ist eine Umschreibung für das Wegnehmen von Behinderungen vor dem Fenster der Seele. (Jan van Rijckenborgh: Alchimische Hochzeit Band 1, S. 91)
Erst als ich mit den anderen Befreiten den siebten und letzten Zug tun musste (wie es auch zuvor immer geschah), merkte ich es, da mir durch die Anstrengung das Blut über meine Kleider lief, worauf ich jedoch vor Freude nicht achtete.
Als nun auch der letzte Zug, woran die allermeisten hingen, vollendet war, ließ die alte Dame das Seil fortbringen und ihren uralten Sohn den anderen Gefangenen ihren Bescheid bringen, worüber ich mich sehr wunderte. Nach kurzem Überlegen redete dieser sie so an:
Ihr lieben Kinder, die ihr hier seid,
es ist vollendet, was längst erkannt,
was meiner Mutter große Gnade
euren Freunden hier erwiesen hat.
Das solltet ihr ihnen nicht missgönnen,
denn eine fröhliche Zeit soll bald beginnen.
Dann wird einer dem anderen gleich,
keiner wird sein arm oder reich.
Wem viel ist anbefohlen,
der muss viel holen.
Wem viel ist anvertraut,
dem geht's an die Haut.
Drum lasst eure laute Klage,
denn es sind nur noch wenige Tage.
Sobald er diese Worte vollendet hatte, wurde der Deckel wieder aufgelegt und der Turm abgeschlossen. Das Pauken und Trompeten begann wieder. So laut aber konnte der Klang nicht sein, dass man die bittere Klage der Gefangenen nicht gehört hätte, die sich im Turm erhob. Das trieb mir die Tränen in die Augen. Bald darauf ließ sich die alte Dame mit ihrem Sohn auf bereitgestellte Sessel nieder und befahl, die Erlösten zu zählen. Als sie nun die Zahl vernommen und auf ein goldgelbes Täfelchen geschrieben hatte, fragte sie alle nach ihren Namen, welche auch von einem Knaben aufgeschrieben wurden. Als sie uns dann nacheinander ansah, seufzte sie und sprach zu ihrem Sohn, so dass ich es deutlich hören konnte: »Ach, wie dauern mich die armen Menschen im Turm. Wollte Gott, ich dürfte sie alle befreien.« Darauf antwortete der Sohn: »Mutter, es ist so von Gott angeordnet, dem sollen wir nicht widerstreben. Wenn wir alle Herren wären und hätten alles Gut auf Erden und säßen alle am Tisch, wer sollte uns zu essen bringen?« Darauf schwieg die Mutter.
Aber bald darauf sagte sie: »Nun, so lass doch diese von ihren Fesseln befreien.« Was dann auch schnell geschah, und ich war der letzte. Ich konnte mich nicht zurückhalten, achtete nicht auf die anderen, sondern verneigte mich vor der alten Dame und dankte Gott, der mich durch sie aus solcher Finsternis gnädig und väterlich ins Licht gebracht hatte. Andere folgten meinem Beispiel, und auch die Dame verneigte sich. Schließlich wurde jedem ein goldener Denk- und Zehrpfennig gegeben. Darauf war auf der einen Seite die aufgehende Sonne eingeprägt, und auf der anderen Seite standen nach meiner Erinnerung die drei Buchstaben D.L.S. (Deus Lux Solis : Gott ist das Licht der Sonne).
Damit war jeder entlassen und wurde an seine Arbeit geschickt mit dem Auftrag, unseren Nächsten zu Gottes Lob zu dienen und über das, was uns anvertraut worden war, zu schweigen. Das versprachen wir und schieden voneinander.
Ich aber konnte wegen der Wunden, welche die Fesseln verursacht hatten, nicht so schnell vorankommen, sondern hinkte auf beiden Füßen. Die alte Dame sah das bald, lachte darüber, rief mich zurück und sagte zu mir: »Mein Sohn, lass dich diesen Mangel nicht bekümmern, sondern erinnere dich deiner Schwachheiten und danke dabei Gott, der dich noch auf dieser Welt und im Zustand deiner Unvollkommenheit zu so hohem Licht kommen ließ. Behalte diese Wunden um meinetwillen.«
Darauf erhob sich wieder das Trompeten, was mich so erschreckte, dass ich erwachte und erst jetzt merkte, dass es nur ein Traum gewesen war. Er lag mir jedoch so sehr im Sinn, dass ich mich noch stets um diesen Traum sorgte, und mir war so, als empfände ich noch immer die Wunden an den Füßen. Wie dem auch sein mochte, so verstand ich doch, dass es mir von Gott vergönnt wurde, einer solchen heimlichen und verborgenen Hochzeit beizuwohnen, wofür ich seiner göttlichen Majestät mit kindlichem Vertrauen dankte und Ihn darum bat, Er wolle mich auch ferner in der Ehrfurcht vor Ihm bewahren, mein Herz täglich mit Weisheit und Verstand erfüllen und mich schließlich ohne mein Verdienst zu dem erwünschten Ende führen.
Kommentar 6: Das Seelenorgan muss wieder leben
Wenn von einer alchimischen Hochzeit, von einem wirklich unsterblichen Menschen, von der Auferstehung einer neuen Menschheit gesprochen werden soll, dann muss der Mensch, der dazugehört, zuerst mit einem wahrhaft lebenden Seelenorganismus ausgestattet werden. Das so lange verborgene und beschädigte Seelenorgan muss wieder leben ... Diese Wiederherstellung wird »die alchimische Hochzeit« genannt und muss mit der wahren Seelengeburt, mit Bethlehem, beginnen. Diese Seelengeburt findet fundamental während des ersten Tages der alchimischen Hochzeit statt. Dafür ist zuerst nötig, dass der Kandidat Einsicht besitzt, die ohne verstandesmäßige Führung erworben wurde. Diese Einsicht erlangt man durch einen neuen Blutszustand, durch das Eindringen der gnostischen Strahlungskräfte in das Blut, durch die wahren Seelenströme. Und die Empfänglichkeit dafür entsteht durch Sehnsucht. (Jan van Rijckenborgh: Alchimische Hochzeit Band 1, S. 97)
Darauf rüstete ich mich für den Weg, zog meinen weißen Leinenrock an, umgürtete meine Lenden mit einem blutroten Band und legte es kreuzweise über meine Schultern. Auf meinen Hut steckte ich vier rote Rosen, damit ich in der Menge durch solche Zeichen schneller bemerkt werden könnte.
Als Speise nahm ich Brot, Salz und Wasser mit, wovon ich auf Anraten eines Verständigen zu gegebener Zeit in bestimmten Fällen nicht ohne Nutzen Gebrauch machte.
Ehe ich aber meine kleine Hütte verließ, fiel ich in meiner Ausrüstung und in meinem Hochzeitskleid auf die Knie und bat Gott, Er möge mir, was auch geschehe, zu einem guten Ende gereichen lassen. Auch habe ich darauf vor Gottes Angesicht gelobt: Wenn mir etwas durch seine Gnade offenbart werden sollte, würde ich es nicht zur Ehre und zum Ansehen in der Welt, sondern nur zur Verherrlichung seines Namens und zum Dienst der Mitmenschen gebrauchen. Mit diesem Gelübde schied ich voller guter Hoffnung und mit Freuden aus meiner Zelle.