Werden Märchen Kindern erzählt, können sie deren empfängliche Seelen tief beeindrucken. Doch auch viele Erwachsene schätzen die bildreiche Sprache der Märchen mit ihren verborgenen Botschaften.
Liest man ein Märchen wie einen Tatsachenbericht – also nur mit dem logischen Verstand –, dann passt vieles nicht zusammen, und es muss den Leser manchmal schaudern. Doch auch Herz und Psyche lesen mit – vor allem zwischen den Zeilen. Das ist das Entscheidende, um die klare, einfache Schönheit der Märchen zu erkennen. Es entstehen Bilder, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Sie bilden unser Innenleben, das seine Geheimnisse nicht so ohne Weiteres preisgibt – ähnlich wie das Traumleben. Dennoch gehören sie zur menschlichen Realität.
Das Unbewusste bestimmt das Leben weitaus mehr als das Bewusste. Und wer sich selber gut kennt, weiß, dass er auch Schattenseiten hat, die er oft vergeblich mit seinen Idealen in Einklang zu bringen versucht. So kann man sich – in der fantastischen Bildersprache der Märchen gesprochen – sowohl als treusorgende Mutter der sieben Geißlein erleben als auch als gierigen Wolf, der alles verschlingen will.
Märchengestalten verkörpern Kräfte im menschlichen System und keine Personen, von denen die eine gut und die andere böse ist. Sie personifizieren Gut und Böse und machen dadurch die Unterscheidung leicht. Auch wenn der Verstand die symbolische Bedeutung der Gestalten nicht erfasst, kann die Geschichte eine klärende, sogar reinigende Wirkung ausüben. Das Gute siegt immer – das ist gerade für Kinder noch eine innere Wahrheit.
Phantasien nehmen in den Gedanken eines Kindes den größten Raum ein. So dient das Märchen als Spiegel ihrer inneren Erfahrung, der Ängste, Wünsche und Träume.
Kinder sind kaum in der Lage, differenziert zu denken. Deshalb brauchen sie klar umrissene Gestalten, mit denen sie sich identifizieren können. Das Märchen vereinfacht alle Situationen, und das ist für das Kind verständlicher. Es kann eine widersprüchlich beschriebene Gestalt nicht gut begreifen, erlebt aber täglich ambivalente Situationen, wie etwa Liebe und Zorn gegenüber Vater oder Mutter. So etwas will verkraftet werden.
Ihr Inneres bewusst zu ordnen, fällt Kindern noch schwer. Je größer die Spannungen, umso notwendiger wird es, diese weit nach außen zu projizieren. Da gibt es zum Glück einen bösen Wolf weit weg von der eigenen Realität im "Es war einmal“, dem es genauso ergeht wie einem selbst mit der Unzulänglichkeit oder Destruktion. Doch trotz zorniger Gedanken geht alles gut aus. Durch Identifizierung mit den guten Gestalten bekommt das Kind Anteil am Sieg. Die Innenwelt ordnet sich, ohne dass das Kind die Mechanismen, die zu der Ordnung geführt haben, immer bewusst wahrnimmt.
Wenn Erwachsene dem Kind die Märchengestalten deuten, können sie damit große Verwirrung stiften, selbst wenn die Deutung zutreffend ist. Denn die Analyse würde das Erleben des Kindes mit dem Herzen und den reinigenden Effekt des Erzählens oder Nachspielens zerstören oder sogar in sein Gegenteil verkehren.
"Noch einmal!“, rufen Kinder häufig, wenn ein Märchen fertig ist. Denn sie erfassen mit jedem Erzählen oder Vorlesen den Gehalt besser. Bei mehrmaligem Zuhören nimmt die Angst ab, und die tröstenden Aspekte nehmen zu.
Kinder lieben es, wenn ein Erwachsener ein Märchen erzählt, denn er zeigt auf diese Weise direkte Zuwendung und ein hohes Maß an aktiver Anteilnahme. Der Erzähler muss es nicht auswendig gelernt haben – die Kinder helfen schon, wenn eine Pause eintritt. So bleibt die Geschichte lebendig.
Wenn der Erzähler oder Vorleser mit dem Herzen dabei ist, bewegt er sich vielleicht gemeinsam mit den Zuhörern auf eine veränderte, reichere Empfindungsebene. Dafür sind gerade Kinder innerlich offen, denn sie spüren etwas vom Ewig-Guten in ihren Herzen. Das ist aber auch Erwachsenen noch möglich: Die Sehnsucht nach dem Ewig-Guten verbindet alle Menschen, Groß und Klein.
Erwachsene nehmen Märchen meist nicht nur mit dem Gemüt auf. Sie wollen wissen, was dahintersteckt. Psychologen beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit Märchenanalysen, und es gibt eine Vielzahl an Interpretationen. Das heißt, dass eine als richtig erfahrene Deutung für einen anderen Menschen irrelevant sein kann.
Aber wer wiederholt die gleichen Märchen oder Mythen liest und dabei seine inneren Erfahrungen mitschwingen lässt, wird bemerken, dass sich ein "stilles Interpretieren“ einstellt. Interpretationen bekommen Leben. Was vorher auf eine bestimmte Art und Weise wirksam war, wandelt sein Gesicht, und ein neuer Aspekt kann sich dem Bewusstsein mitteilen.
Neben der psychologischen Deutungsweise gibt es auch eine spirituelle Betrachtungsebene. Das gute Ende bedeutet dann nicht nur, dass schlechte Charakterzüge ins Gute verkehrt werden. Es geht vielmehr um das Ewig-Gute, das im Menschenherzen ruht und von dem der Mensch wünscht, dass es einmal uneingeschränkt in ihm herrschen möge. Bevor es jedoch so weit ist, gibt es viele Zwischenfälle, in den Märchen oft als Prüfungen dargestellt. Der Kandidat wird geprüft, ob er nur seinen eigenen Vorteil sucht oder dem ewigen Prinzip in sich Gehör schenkt. Will er mit Gewalt – mit seinem Ich – durch die Dornenhecke, um das schlafende Dornröschen aufzuwecken, muss das misslingen. Erst wenn die Einflüsterungen des Ichs keine Macht mehr über ihn haben, ist die Zeit reif, und das Dickicht lichtet sich.
Das ist es, was an Märchen fasziniert: Sie inspirieren und regen archetypische Schichten im menschlichen Bewusstsein an. Wie mit diesen Inspirationen umgegangen wird, hängt vom Bewusstseinszustand des Lesers oder Zuhörers ab.
Für Kinder sind es die einfachen, klaren Bilder ihrer Fantasiewelt, welche die Liebe zu Märchen erklärt. Für Erwachsene sind es die vielschichtig verknüpften Bilderwelten, die das innere Gemüt verzaubern und bewegen. Und für spirituell interessierte Menschen ist es das Wiedererkennen der Universellen Weisheitslehre, die in fast allen Märchen verborgen ist und darauf wartet, in ihrer Tiefgründigkeit entdeckt zu werden.