Diese Zeile aus dem Vaterunser ist der Kern der Vergebung. Sie hat eine Tiefe, die sich erst beim gründlichen Überdenken erschließt.
Millionen von Christen beten täglich das Vaterunser und man möchte meinen, dass das der Menschheit zum Segen gereicht. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Das Schuldkonto der Menschen erhöht sich von Sekunde zu Sekunde. Woran mag das liegen? Verstehen wir etwas falsch? Wenn man die beiden zitierten Satzsequenzen einmal für sich selbst umkehrt, dann würde es heißen: In dem Maße, wie wir unseren Schuldigern vergeben, wird auch uns vergeben. Das ergibt gleichsam einen anderen, einen verwandelten Sinn. Es kehrt die Verhältnisse gewissermaßen um und würde bedeuten, dass wir mit dem Vergeben beginnen müssten. Wir selbst müssten den ersten Schritt tun und der Vergebung eine Chance einräumen.
Aber wie kann das geschehen? Wie können wir wirklich vergeben? Schon alleine das Wort gibt einen Hinweis: ver – geben. Man gibt etwas. Und die Vorsilbe "ver“ deutet einen Richtungswechsel an. Es geht also um ein Geben und um eine ganz andere Richtung, man könnte auch sagen, eine ganz andere Ebene. Schuldig werden wir auf der menschlichen Ebene und Vergebung geschieht auf einer übergeordneten Ebene – wie auch immer man diese Ebene bezeichnen mag: Geist, Gott, vollkommene Liebe, Himmelreich. Auf der menschlichen Ebene regiert der Verstand und das von ihm erschaffene "Ego“, das schuldig wird. Auf der übergeordneten Ebene gelten andere Gesetze, Gesetze der vollkommenen Liebe.
Vieles, was uns auf der menschlichen Ebene begegnet, ist auch mit Schuld behaftet. Daher ist wirkliche Vergebung auf dieser Ebene schwierig. Sie wird erst möglich, wenn es uns gelingt, die übergeordnete Ebene zu erreichen, sich ihrer bewusst zu werden. Einem Schuldiger zu vergeben, würde demnach bedeuten, das Ereignis, den Umstand oder die Situation, dieser anderen Ebene anzuvertrauen, in diese andere Richtung zu zielen, alles ihr zu übergeben. Es würde gleichzeitig bedeuten, alles auf der Ebene des Ego loszulassen. Das heißt, die Gedanken, die Empfindungen, die Willensimpulse, die sich mit einem Ereignis, einer Situation oder einem Umstand von Schuld verbunden haben, einfach loszulassen, fallen zu lassen, weil erkannt wurde, dass sie keine Bedeutung haben, angesichts der übergeordneten Ebene. Dieses Erkennen ist der erste Schritt zu Vergebung. Alles, was wir so loslassen können, weil es seine Bedeutung für uns verloren hat, fällt gleichsam ins Nichts, in das Vakuum der vollkommenen Liebe, die uns von allen Seiten umgibt. Dort wird alle Schuld neutralisiert und verwandelt. Dieses Vakuum vollkommener Liebe – man kann es auch als Gott bezeichnen – sorgt für die endgültige Vergebung, aber erst, wenn wir unseren Schuldnern "vergeben“ haben durch wirkliches und vollkommenes Loslassen.
Je mehr Menschen sich der beiden angedeuteten Ebenen bewusst werden und danach handeln, desto eher kann das Schuldkonto der Menschheit verringert werden. Ein Gebet nur nachsprechen genügt dabei nicht. Es will auch in seiner Tiefe verstanden und verwirklicht werden.