"Sag die Wahrheit!“ - "Ich sag die Wahrheit.“ - "Nein, tust Du nicht.“ Der Streit, was wahr ist, und was nicht, begegnet einem in etlichen Alltagssituationen und er bestimmt auch die großen Konflikte der Menschheit. Dabei erfährt ein selbstkritischer Mensch, dass die Wahrheit so schwer zu fassen ist wie eine Nebelschwade. Und während er den dichten Schleier mit der Kraft der Argumente, des Glaubens, der Wissenschaft oder der Künste lichten will, wird die Sicht nicht klarer - im Gegenteil, das Dickicht aus weißem Nebel nimmt zu. Was der eine als wahr empfindet, ist für den anderen unwahr. Und so mancher, der auf sein Leben zurückblickt, muss sich eingestehen, dass er vieles, was er in jungen Jahren für die Wahrheit hielt, heute ganz anders beurteilt. Und wer weiß? Vielleicht ist das Selbe morgen für ihn bereits die Unwahrheit. Die Wahrheit scheint relativ.
Das Bewusstsein des Menschen verändert sich
Die Ursache für diese scheinbare Veränderlichkeit der Wahrheit ist das Bewusstsein des Menschen. Je nachdem, wo ein Mensch im Leben steht - und das ist auch bildlich gemeint - blickt er von seinem Standpunkt auf ein Ereignis oder auf eine Erkenntnis. Wer seinen Standpunkt verändert, dem können auch andere Dinge bewusst werden. Der Volksmund nennt das, "die Dinge plötzlich mit anderen Augen sehen“. Das 'Evangelium des vollkommenen Lebens', das auch als 'Evangelium der Essener' bezeichnet wird, beschreibt dieses sonderbare Phänomen der Wahrheit in Gleichnissen. So erläutert Jesus den Jüngern: "Die eine Wahrheit hat viele Seiten, und einer sieht nur eine Seite, der andere eine andere, und etliche sehen mehr denn andere, so wie es ihnen gegeben ist.“
Die Wahrheit aber ist unveränderlich
Die Fähigkeit des Menschen die Wahrheit zu erkennen, ist in ständiger Veränderung. Aber die Wahrheit selbst ist unantastbar. Sie ist bei Gott allein. Und gehört damit in das Reich der Ewigkeit. Anhand eines Kristalls, beschreibt Jesus den Jüngern, was er meint: "Sehet diesen Kristall: So wie das eine Licht offenbar ist in zwölf Flächen (...) und jede Fläche einen Strahl von dem Lichte zurückwirft und man eine Fläche und ein anderer eine andere anschaut, so ist es doch der eine Kristall und das eine Licht, das in allen scheint. (...).“
Zu dieser Welt des Lichtes hat das Bewusstsein des Menschen aber keinen Zutritt. Nur das Geistfunkenatom kann sich mit der Kraft des göttlichen Lichtes verbinden - der letzte Rest aus der göttlichen Welt, der verborgen liegt im Menschenherzen. Nur durch ihn erhält der Mensch den Zugang zur Wahrheit, die bei Gott ist. "Gott gibt euch alle Wahrheit, gleich einer Leiter mit vielen Sprossen, zur Befreiung und Vervollkommnung der Seele, und die Wahrheit von heute werdet ihr verlassen für die höhere Wahrheit von morgen“, heißt es in dem Evangelium des vollkommenen Lebens.
Je weiter der Mensch auf seinem Pfad dem Licht entgegen geht, desto mehr Facetten der Wahrheit kann er erkennen. "Herr, nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe“ - dieses Gesetz bestimmt einen solchen Lebensweg. Er kann nicht aus Berechnung gegangen werden, sondern nur aus dem inneren Wissen, nichts zu wissen. Denn mit seinem natürlichen Bewusstsein stößt der Mensch an eine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Dahinter kann nur die erwachte Seele den Weg bestimmen, die sich mit dem Licht, mit dem Geist verbindet.
Ein neues Bewusstsein erhält Anteil an der Wahrheit
Durch diese bewusste Einheit von Seele und Geist, die im Inneren gefeiert wird, erhält der Mensch vollkommen neue Möglichkeiten. Ein Prozess beginnt, ein neues Bewusstsein wird geboren - das für das göttliche Licht und damit für die Wahrheit aus erster Hand empfänglich ist. Jesus gibt seinen Jüngern deshalb den Rat: "Mühet euch um Vollkommenheit. Die das Heilige Gesetz halten, das ich gegeben habe, werden ihre Seelen retten, wie verschieden sie auch die Wahrheiten sehen mögen, die ich ihnen gegeben habe. (...) Die, welche Liebe haben, haben alle Dinge, und ohne Liebe gibt es nichts, das Wert hätte. (...) wo keine Liebe ist, (ist) die Wahrheit ein toter Buchstabe ohne Wert.“
So wie der Weg zur Einheit von Seele und Geist nicht aus Eigennutz gegangen werden kann, so dient auch das neue Bewusstsein eines Menschen nicht ihm selbst. "Lasset sie (die Wahrheit) von jedem empfangen werden nach seinem Licht und seiner Fähigkeit, sie zu verstehen, und verfolget nicht, die nach einer anderen Auslegung empfangen.“ Das, was das neue Bewusstsein an Wahrheit durch das Licht empfängt, kann der Mensch nicht für sich behalten, er kann auch nicht darüber streiten - sondern er muss es weiter schenken.