Ich war noch ein Kind, als ich zum ersten Male die Geschichte von der Jakobsleiter hörte. Meine Großmutter hatte sie mir erzählt. Sie war eine gläubige Frau, und ich liebte sie zärtlich. Sie sagte damals, diese Leiter sei für alle Menschen, nicht nur für Jakob, und man könne auf ihr bis zum Himmel, bis zu Gott steigen. Ich fand das irgendwie seltsam, aber ich glaubte ihr. Später hörte ich die Geschichte aus dem ersten Buch Mose des Alten Testamentes immer einmal wieder und jedes Mal dachte ich, wie ungeheuerlich sie eigentlich war. Aber dann vergaß ich sie. Es dauerte viele Jahre bis ich ihr wieder auf ganz neue Weise begegnete: in der Bedeutung des Glaubens als Leiter zum Himmel.
Sprosse für Sprosse gen Himmel
Inzwischen hatte ich mich entschlossen, einen spirituellen Weg zu gehen. Aus der Erkenntnis der Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit dieser Welt, erwachte in mir die Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach Einheit, Freiheit und Liebe. Ich erkannte, dass die abendländischen Mysterien der Rosenkreuzer eine umfassende und tief greifende Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens ermöglichten. Und obwohl ich zunächst nur einen Bruchteil davon verstand, war mein Herz berührt und von einem feurigen Glauben erfüllt.
Nie zuvor hatte ich solche Zusammenhänge geschaut. Und wenn ich die neuen Einsichten im täglichen Leben erprobte, stellten sie sich als tauglich und erlebbar heraus. So entwickelte sich in mir ein Prozess der Progression. Aus dem anfänglichen Glauben entstand eine immer tiefer empfundene Gewissheit, und tief im Herzen erwachte die Sicherheit, mit dem Vollkommenen verbunden zu sein. Jetzt verstand ich die Geschichte mit der Jakobsleiter auf ganz neue Weise. Sie war mir kein Symbol mehr, sie war eine Realität. Sie zu erklimmen – Sprosse für Sprosse – wurde mein Lebensziel.
Die Stufen des Glaubens
Der Philosoph Karl von Eckartshausen stellte im 18. Jahrhundert einmal vier Stufen des Glaubens heraus, die wie eine Leiter den Menschen wieder mit seinem göttlichen Ursprung verbinden sollten:
der historische Glaube
der moralische Glaube
der göttliche Glaube
der lebendige Glaube.
Der historische Glaube fängt demnach an, wenn der Mensch aus der Geschichte der Zeit erfahren hat, dass es göttliche Botschafter gab, die aus Liebe zur Menschheit eine Lehre brachten und in einem außergewöhnlichen Lebenswandel diese Lehre lebten und bewiesen. Diesen Botschaftern des Lichtes die ganze Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken, wird zum Lebensziel.
Daraus erwächst dann der moralische Glaube. Das bedeutet, dass der Mensch die Lehren dieser göttlichen Botschafter anerkennt. Er versteht, dass diese besonderen Männer und Frauen voll Weisheit und Liebe waren, und dass sie oft um der Wahrheit willen den Tod erleiden mussten. So entsteht nach dem Glauben an die Person, der Glaube an ihre Worte.
Aus diesem entwickelt sich dann der Glaube an die Göttlichkeit dieses Botschafters. Sein Wandel auf dieser Erde, seine Lehre, seine Werke und Wundertaten zeugen von seiner Göttlichkeit. Jesus Christus als einer dieser Botschafter selbst spricht darüber in den Worten: "Der Vater und ich sind eins“, und der Mensch dieser Glaubenstufe hält es auch für wahr. Er ist jetzt ebenfalls bereit, auch jenes für wahr zu halten, was er noch nicht begreift.
Aus dieser Hingabe und Ergebung und der treuen Befolgung der Lehre entsteht endlich der lebendige Glaube. Im eigenen Innern findet der Mensch alles durch Erfahrung bestätigt, was er bisher bloß aus kindlichem Zutrauen geglaubt hatte. Wenn so in der Tiefe des eigenen Herzens das Licht der Erkenntnis erwacht ist, dann ist gleichsam eine Türe aufgestoßen. Das Licht und die Kraft des Botschafters haben sich dann mit diesem Menschen leiblich verbunden und den Weg zu einem neuen Leben geöffnet. Jetzt geht der lebendige Glaube mit diesem Menschen einen Pfad der Läuterung und Reinigung bis zur Vollendung.
Botschafter des Lichts
Diese vier Stufen des Glaubens lassen sich sowohl individuell als auch kollektiv verstehen. Sie können sich im Leben eines Einzelnen manifestieren, sie können sich aber auch über lange Zeitperioden mit der Menschheit ereignen. Glaube ist heute etwas sehr Persönliches. Er ist nicht mehr Gegenstand allgemeiner Kommunikation. Gläubige Menschen werden daher oft als naiv empfunden und abgetan. Aber niemand kann letztlich genau erklären, warum er glaubt, denn es ist das Herz, aus dem der Glaube aufsteigt. Man kann den Glauben nicht wollen, nicht machen. Er ist wie ein Geschenk, und er hat seine eigene Progression.
Nicht immer wird ein Einzelner in seinem Leben alle Stufen durchlaufen. Wer aber bei der letzten Stufe angelangt ist, kann vom Glauben zum Wissen, zur Anschauung durchdringen. Das setzt jedoch einen Prozess voraus, den eine Geistesschule mit ihren Schülern gehen möchte. Wenn der lebendige Glaube die Tür zur Ewigkeit geöffnet hat, kann der Schüler mit der Kraft des Göttlichen selbst verbunden werden. Diese Lichtkraft verändert dann sein ganzes Wesen. Der Schüler kann nicht anders, als selbst vom Licht zu zeugen und so wieder ein Botschafter für andere zu werden. Der große Bogen des Glaubens hat sich dann erneut gespannt.