"Der Jünger sprach zum Meister: 'Wie mag ich kommen zu dem übersinnlichen Leben, dass ich Gott sehe und höre reden?' Der Meister sprach: 'Wenn du dich magst einen Augenblick in das schwingen, da keine Kreatur wohnet, so hörest du, was Gott redet.' Der Jünger sprach: 'Ist das nahe oder ferne?' Der Meister sprach: 'Es ist in dir; und so du magst eine Stunde schweigen von all deinem Wollen und Sinnen, so wirst du unaussprechliche Worte Gottes hören.' “
So stellte der erleuchtete Philosoph Jakob Böhme (1575-1624) in der Sprache seiner Zeit den Weg und das Ziel dar.
Die unaussprechlichen Worte Gottes hören – das ist eine Umschreibung für den Zustand der Erleuchtung. Wer Erleuchtung sucht, möchte Gott tatsächlich begegnen und seine Wirklichkeit wahrnehmen.
Erleuchtung hat also etwas mit Wahrnehmung zu tun. Dabei kann es nicht um die gewöhnliche Art der Wahrnehmung gehen, die man aus dem täglichen Leben kennt. Die Welt nimmt der Mensch über die Sinnesorgane wahr. Augen, Ohren und die anderen Sinne melden ihre Eindrücke an das Gehirn, wo sie beurteilt und eingeordnet werden. Intellekt und Gefühl wirken dabei ebenso mit wie unterbewusste Strukturen, die sich über viele Inkarnationen als Karma aufgetürmt haben und den Horizont verstellen. Was man auf der Basis des gewöhnlichen Bewusstseins erkennen kann, ist deshalb immer subjektiv und begrenzt.
Um dem Geist Gottes zu begegnen, gilt es, eine andere Ebene der Wahrnehmung zu aktivieren - eine geheime Kammer im eigenen Wesen zu finden, deren Tür normalerweise verborgen bleibt. Was ist das für eine Kammer, und wo ist sie zu finden?
Der Mensch ist ein zweifaches Wesen. Die sterbliche Persönlichkeit trägt ein ewiges Prinzip in sich, einen Funken des göttlichen Geistes. Was seine eigene Natur betrifft, kennt der Geistfunke keine Einschränkungen und Begrenzungen. Aber er ist gefangen in einer Kammer im menschlichen Herzen. Er ist der verkümmerte Rest des ursprünglich göttlichen Menschen, der einmal existierte, bevor er in der Welt der Materie mit ihrer diesseitigen und jenseitigen Sphäre versank.
Der ursprüngliche Mensch war ein vollständiger Mikrokosmos, eine Welt im Kleinen, die sich in vollkommener Harmonie von Geist, Seele und Körper offenbarte. Der ursprüngliche Mensch war eins mit dem Geist Gottes und offenbarte seinen Willen. Er war also "erleuchtet“, und die Erinnerung an diesen Zustand dringt von Zeit zu Zeit aus der verborgenen Kammer in das Bewusstsein des Menschen. "Suche die Verbindung mit Gott!“, so kann dieser zarte Ruf der Erinnerung verstanden werden. "Suche Erleuchtung!“
Wenn die gerufene Persönlichkeit diese zarte Impression wahrnimmt und ihre Quelle in sich selbst zurückverfolgt, dann stößt sie auf die verborgene Kammer des Herzens. Die Tür dieser Kammer ist zunächst verschlossen. Aber durch das reine Verlangen nach dem Licht kann sie sich öffnen, und dann erwacht aus dem dort versunkenen Geistfunken die "Rose“, das Kraftzentrum der unsterblichen Seele. Die Rose ist es, die seit langer, langer Zeit ihren Ruf an das Bewusstsein der Persönlichkeit sendet - wie das Signal, das die Blackbox eines abgestürzten Flugzeugs vom Grund des Meeres sendet, um gefunden zu werden.
Dieser unvergessliche Moment im Leben eines Menschen, in dem er gewissermaßen die Blackbox seines verlorenen unsterblichen Lebens in sich selbt wiederfindet, kann als ein erster erleuchteter Moment erlebt werden. Aus dem Ruf wird dann Licht, und darin enthalten ist eine besondere, neue Art von Erkenntnis.
Erleuchtung entsteht aus der Berührung durch das geistige Licht. Diese Berührung kennt viele Abstufungen. Welche Qualität gerade wirksam werden kann, hängt ganz und gar vom Bewusstseinszustand jedes einzelnen Menschen ab.
Die meisten Menschen der westlichen Zivilisationen haben ihren Bewusstseinsschwerpunkt heute im Ich. Sie sind stark individualisiert und benutzen vor allem das intellektuelle Denken als Werkzeug zur Erkenntnis. Den Gegenpol dazu bildet die Welt der Emotionen, die viele Verstrickungen mit sich bringt.
Das neue Licht zur Erkenntnis kommt jedoch nicht über die Sinne herein und steigt auch nicht aus der karmischen Vergangenheit herauf. Es hat eine ganz andere Qualität als der Verstand und das Gefühl. Die Quelle des unvergänglichen Lichtes begegnet dem Menschen auf einer anderen Ebene. Die Erleuchtung aus der Rose des Herzens erfasst das ganze Wesen mit der Kraft von Liebe und Weisheit. Das ist es, was die alten Eingeweihten "Gnosis“ nannten – Kenntnis aus erster Hand. Ein von Liebe und Weisheit erleuchtetes Herz ist dann auch die Basis für die weiteren Stufen der Erleuchtung.
Das Licht aus der Rose führt zu der inneren Gewissheit, in die Liebe Gottes aufgenommen zu sein. Es führt aber auch zu einem intensiven Prozess der Läuterung, einer Reinigung des Herzens. Der Kandidat wird zuerst durch das Licht geprüft, ob seine Motive selbstlos sind, und er wird durch das Licht an seine persönliche Grenze geführt. Diese innere Grenze ist gleichzeitig die Grenze der zeiträumlichen Welt.
"Aurora, die Morgenröte im Aufgang“, wie Jakob Böhme die Erleuchtung nennt, erwartet den Kandidaten erst hinter dieser Grenze. Aurora offenbart sich dem Kandidaten nur, wenn er bereit ist, die Vorstellungen seines Ichs zum Schweigen zu bringen, seinen intellektuellen Stolz zu überwinden und sein Leben in den Dienst des Lichtes zu stellen.
In dem Gespräch zwischen Meister und Jünger von Jakob Böhme sprach der Jünger: " 'Womit soll ich Gott hören und sehen, so er über Natur und Kreatur ist?' Der Meister sprach: 'Wenn du stille schweigest, so bist du das, was Gott vor Natur und Kreatur war, daraus er deine Natur und Kreatur schaffete: So hörest und siehest du es mit dem, damit Gott in dir sahe und hörete, ehe dein eigen Wollen, Sehen und Hören anfing.' “
Wie die Morgenröte ihre Strahlen über den Horizont vorausschickt, so schickt auch das geistige Licht seine Botschaft voraus. Auf dem Weg dorthin voranschreitend, wird der Kandidat das spirituelle Licht im Bewusstsein Schritt für Schritt erfahren. Zuerst in kurzen Momenten durch Lichtblitze eines neuen Verständnisses, das sich durch eine große Klarheit und Demut auszeichnet.
In dieser Klarheit begegnet er den anderen Seelen und erkennt, dass er nicht allein ist. Das Licht der Liebe hält alle Seelen umfangen und führt sie als große Einheit in die Welt des Geistes. Deshalb wartet an einem bestimmten Punkt des Weges zur Erleuchtung die Erkenntnis, dass man durch das Tor zum Licht nicht allein eintreten kann. Es öffnet sich für Menschen, die sich über das Persönliche und Individuelle erheben und auf der Ebene der Seele eine Einheit bilden können. Auch das ist eine Prüfung.
Erlebnisse von Erleuchtung stehen nicht am Ende eines Weges. Sie schenken vielmehr eine Vorausschau auf das, was nun im Leben konkret verwirklicht werden muss, um ein geeignetes Gefäß und Werkzeug für das Licht zu werden.
Es ist die Vorausschau auf die nächsten Lebensschritte aus der Sicht der unsterblichen Seele. Und es geht nun darum, das eigene Leben nach und nach so auszurichten, dass nicht mehr die Bedürfnisse des Ichs im Mittelpunkt stehen, sondern die Bedürfnisse der Seele und des Geistes. Diese Bedürfnisse haben immer zum Inhalt, dem Licht und den Menschen dienstbar zu sein – spirituell und praktisch.