Immer wieder gab und gibt es Impulse, ein spirituelles Christentum zu initiieren.
Die Reformation war ein vielschichtiger, rund 130 Jahre dauernder Prozess in Deutschland. Es ist die Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit, eine Zeit mit vielen Spannungen und Konflikten. Der Augustinermönch Martin Luther setzte mit seinem Aufbegehren gegen den Ablasshandel eine Welle in Bewegung, die ganz Europa erfasste und dadurch die großen Veränderungen dieser Zeit entscheidend mitprägte.
Luther trat 1517 mit seinen reformerischen Ideen an die Öffentlichkeit. Wie in seinen "95 Thesen“ dargelegt, ging es ihm hauptsächlich um die überfällige Korrektur einer aus dem Ruder gelaufenen kirchlichen Macht- und Prachtentfaltung. Es war eine Weigerung gegenüber einer Jahrhunderte währenden falschen Praxis im Namen des Christentums.
Auf dem Reichstag zu Worms 1521 soll Luther gesagt haben: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“. Solch ein Satz, wie aus tiefstem Herzen gesprochen, weist auf einen inneren Glaubenszustand Luthers hin, auf ein innerlich erlebtes Christsein, das zunächst die tragende Kraft für die reformatorischen Aktivitäten entfaltete. Ohne diese Kraft wäre es sicherlich nicht gelungen, so viele Anhänger zu mobilisieren. Luther hat durch sein Vorbild in Vielen die Fackel des Christusbewusstseins entzünden können. Doch er und seine Anhänger haben in ihren Reformbestrebungen zwar die Macht- und Prunksucht der Kirche ihrer Zeit entlarvt, jedoch das traditionelle Dogmensystem nicht angetastet.
Daher konnten die Machtstrukturen der römischen Kirche wieder Boden gewinnen und eine Reformation im Sinne von Umgestaltung oder gar Erneuerung abwehren. Eine Befreiung christlicher Religiosität aus der beherrschenden Umklammerung durch die Kirche konnte nicht gelingen. Der Wandel von einem äußeren hin zu einem inneren Christentum war vorläufig unterbrochen.
Etwa 100 Jahre später erfolgte der Impuls für eine weitere "Reformation“ mit dem Ziel, diesen Wandel fortzusetzen. Am Vorabend des 30-jährigen Krieges veröffentlichte die damals geheime Rosenkreuzer-Bruderschaft 1614 die programmatische Schrift Fama Fraternitatis. Dieser Ruf der Rosenkreuzer-Bruderschaft enthielt den Aufruf zu einer umfassenden geistigen "Weltreformation“, die weit über die lutherische Reformbewegung hinausreichen sollte. Damit stellten die Rosenkreuzer ein neues, von göttlicher Weisheit inspiriertes Welt- und Menschenbild vor das Bewusstsein der Menschheit. Durch die Jahrhunderte hin bis heute hat diese überzeitliche Welt-Anschauung ursprünglicher Religion nichts von ihrer Bedeutung und Aktualität verloren.
Die Fama Fraternitatis verstand sich nicht nur als Appell, als Gesellschaftsreform oder eine erneuerte religiöse Lehre, sondern sie versuchte, suchenden Menschen Orientierung zu geben und einen völlig neuen Lebenshorizont zu eröffnen. So sorgte die Schrift vor 400 Jahren bei vielen Menschen für Aufbruchstimmung und Hoffnung auf ein neues Zeitalter, weckte aber gleichzeitig den Widerspruch verschiedenster religiöser Gruppen. Hinter dem gedruckten Wort schien eine Kraft wirksam, und diese Einheit von Kraft und Wort konnte zu einer beseelenden Botschaft an die Menschen werden. Diese Botschaft bestand in der Wiederbelebung des urchristlichen Auftrages, Jesus nachzufolgen und zwar nicht nur durch bloßen Glauben im Sinne eines Fürwahrhaltens von Dogmen, sondern durch das Gehen eines Weges der Verwandlung nach Geist, Seele und Körper. Gleichzeitig bot dieses spirituelle Werk den Menschen eine Methode an, eine praktische Anleitung, wie sie zu dieser Selbstveränderung und Bewusstseinsentwicklung kommen können.
Im Rahmen dieser "allgemeinen und General-Reformation der gantzen weiten Welt“ kamen Religion, Wissenschaft und Kunst auf den Prüfstand und wurden in eine tiefgreifende Umwälzung hineingezogen. Dies bewirkte eine neue Sicht auf Gott, Kosmos und Mensch. Zentrales Anliegen der Verfasser war ein tieferes Verständnis von Religion, Wissenschaft und Kunst in ihrer wahren Bedeutung. Denn die damit korrespondierende spirituelle Dimension von Kraft, Erkenntnis und Verwirklichung war verlorengegangen.
Den klassischen Rosenkreuzern ging es nicht um die Reformierung eines äußerlichen Christentums, sondern um den vollständigen Neubeginn, um den Impuls für die Wiederherstellung eines spirituellen Christentums nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden.
Luthers Reformation war ein wichtiger Zwischenschritt, der die Tür für eine Bewusstseinsentwicklung der europäischen Völker öffnete. Noch heute sind die Nachwirkungen der Reformation spürbar. Was damals geschah, vollzieht sich auch gegenwärtig. Viele Menschen "reformieren“ ihr religiöses Leben und verlassen die traditionellen Kirchen. Sie suchen nach einer innerlichen christlichen Praxis, frei von Dogmen, Bevormundung und veräußerlichter Symbolik.
Die zu allen Zeiten wirksame Christuskraft ermöglicht jedem Menschen ein unmittelbares Erleben des göttlichen Geistes, so wie es bereits vor 2000 Jahren das gnostische Christentum praktizierte und wie es auch heute von den Schülern der Internationalen Schule des Goldenen Rosenkreuzes angestrebt wird: Gnosis als Erkenntnis Gottes.