In der Philosophie nimmt Ludwig Wittgenstein (1889-1951) einen besonderen Platz ein. Sein Beitrag liegt vor allem auch darin, dass er die Religion in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft und zum alltäglichen Denken neu bestimmt, insbesondere alle spekulative Verwendung von Sprache in ihre Grenzen verweist.
Man würde niemals erwarten, dass das Thema "Religion“ im Werk eines der bedeutendsten Philosophen dieses Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein, einen zentralen Platz einnimmt. Wittgenstein wurde bekannt durch seine herausragenden Arbeiten auf den Gebieten der Logik und der Sprachphilosophie, der Erkenntnistheorie und der Philosophie der Mathematik. Mit hohen moralischen Ansprüchen rang er lange darum, was Religion sein könne oder müsse, und beschäftigte sich auch in seinem späteren Leben sehr intensiv hiermit.
Ludwig Wittgenstein wurde als achtes und letztes Kind von Karl Wittgenstein und Leopoldine Kalmus in Wien geboren. Karl Wittgenstein war einer der bedeutendsten und reichsten Industriellen in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Im kulturellen Leben Wiens spielten die Wittgensteins eine prominente Rolle.
Sowohl die Familie Wittgenstein als auch die Familie der Mutter Ludwigs waren ursprünglich jüdisch, assimilierten sich jedoch im Lauf des 19. Jahrhunderts und traten zum Christentum über. Ludwig erhielt die für die damalige Zeit und seinen Stand übliche Ausbildung, zu der selbstverständlich auch Religionsunterricht gehörte. Die Familie war, besonders in Ludwigs Jugend, nicht wirklich fromm. Er selbst wandte sich schon früh vom offiziellen Glauben ab.
Das Wort "offiziell“ ist hier ein Schlüsselbegriff. Niemals beschäftigte er sich mit Religion im Zusammenhang mit einer offiziellen Kirche oder einem ausgearbeiteten Lehrsystem. Nicht das Dogma, das Bekenntnis, sondern die Praxis, die Handlung, war für Wittgenstein das Wesentliche der Religion. Seinem Freund Drury gegenüber bekannte er (The Danger of Words), dass er doch nicht anders könne, als alles von einem religiösen Standpunkt aus zu sehen. Hiermit stieß er allerdings auch auf Unverständnis.
So klagte sein Lehrer Bertrand Russell in Cambridge: "Er liest solche Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius", musste jedoch auch anerkennen: "Er ist tief in mystische Denk- und Empfindungsweisen eingedrungen." (Briefe). Wittgenstein fragte: "Wie kann ich Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin?“ (Briefe). Und er bekundet in Tagebücher 1914-1916: "Es ist wahr: Der Mensch ist ein Mikrokosmos.“ Es hat Zeiten völliger innerer und äußerer Einsamkeit in Wittgensteins Leben gegeben. Auf sein Millionen-Vermögen hat er verzichtet. Und dieser Verzicht bedeutete ihm Befreiung.
Wenn man aus dieser Perspektive Wittgensteins Werk betrachtet, erkennt man darin eine unübersehbare ethisch-religiöse Motivation und dies trotz der Tatsache, dass Ethik oder Religion darin selten ausdrücklich genannt werden. Es gab Wandlungen in Wittgensteins Ausführungen über die Bedeutung, über das Verhältnis von Sprache und Logik, über die Rolle des Denkens und über die Art, wie Erkenntnisaussagen entstehen und begründet werden können. Doch die Ausrichtung auf das Ethisch-Religiöse blieb durch alle seine Schaffensperioden hindurch bestehen.
Bereits sein erstes großes Werk Tractatus Logico-Philosophicus behandelt die Grundlagen der Logik, der Sprache und des Denkens, enthält in Auseinandersetzung mit der formalen Logik eine allgemeine Charakterisierung dessen, wodurch ein Ausdruck bedeutungsvoll wird, also auf ein Etwas verweisen kann. Das Buch lässt erkennen, dass viele philosophische Ausdrücke – unter anderem der Ethik – nicht bedeutungsvoll sind; das gilt ebenfalls für die Religion.
Im Denken Wittgensteins sind Ethik und Religion nahezu synonym. Das Ethische gehört nach seiner Meinung zur Domäne dessen, wovon nicht gesprochen werden kann und worüber wir daher schweigen müssen. Dennoch ist – anders als für einige logische Positivisten – für Wittgenstein das, "wovon man nicht sprechen kann“, nicht wertlos, ganz im Gegenteil. Für ihn betrifft es die wirklichen Probleme des Lebens.
In den Philosophischen Untersuchungen warnt er vor der "Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Die Sprachverwirrungen kennzeichnen ernste und tief sitzende Krankheiten in unserer durch die Verwobenheit von Denken und Sprechen geprägten Lebensform. Aufgabe des Philosophen ist es daher, mittels Beschreibung von Sprachproblemen die Krankheit zu therapieren und eine neue Lebensform zu ermöglichen.
"V e r s t e h e ich denn das Wort (...)? (...) Habe ich mich nicht um etwas Wichtiges betrogen?“ (Philosophische Grammatik). Die Bezeichnung ist nicht das Bezeichnete. Das Reden über den Geist ist nicht der Geist. Es sind zu überwindende Sätze. Das Sprechen über das Unaussprechliche sowie alle Erklärungsbemühungen ordnet er in den Philosophischen Untersuchungen den "Sprachspielen" zu. Bereits die "Überlegung ist ein Teil des Sprachspieles“, ebenso der Zweifel (Zettel).
Die neuen Einsichten bieten wesentliche Beiträge zur Philosophie der Moderne. Und auch der zeitgenössische französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht 2009 in seinem Essay "Die Liebe, übermorgen“ äußerst treffend von einer bloßen "Liebe zur Sprache“ als einem "von Sinn getrennten Bereich“.
"Ethik, die aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann keine Wissenschaft sein, kann unser Wissen in keinem Sinne vermehren." Wir erfahren "ein aussichtsloses Anrennen gegen die Grenzen der Sprache", gegen die "Wände unseres Käfigs. Doch es ist ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewussstsein“, das Ludwig Wittgenstein "nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde“ (Vortrag über Ethik).
"Das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten“, heißt es in einem Brief. Und in einem anderen: " (...) mein Werk besteht aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von innen her begrenzt.“
Trotz großer Abneigung gegen das akademische Leben ist es Wittgenstein klar geworden, dass seine Lebensaufgabe auch darin besteht, gerade hier sein Talent einzusetzen, für diesen "Sinn der Welt", der "außerhalb ihrer liegen muss“ (Tractatus). Und "nur dadurch kann sie (die Arbeit) gelingen, indem von außerhalb mir der Schleier von meinen Augen weggenommen wird".
Sein Weg führte vom "Idealismus zum Realismus“. Es geht darum, den eigenen Willen in Übereinstimmung zu bringen mit "jenem fremden Willen“, von dem wir "abhängig sind", dem eine "von unserem Willen unabhängige Welt“ zugrunde liegt, identisch mit "Gott", dem "Sinn des Lebens", dem "Sinn der Welt“.
"An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen", so der Philosoph in Tagebücher 1914-1916. "Ich bin entweder glücklich oder unglücklich, das ist alles. Man kann sagen: gut oder böse gibt es nicht. Wer glücklich ist, der darf keine Furcht haben. Auch nicht vor dem Tode. Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich. Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod. Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Er ist keine Tatsache der Welt. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann kann man sagen, dass der ewig lebt, der in der Gegenwart lebt. Um glücklich zu leben, muss ich in der Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja: 'glücklich sein'.“
(Quelle: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1984 ff.
Foto mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages, Abdruck des Buchcovers "Ludwig Wittgenstein. Leben, Werk, Wirkung" von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989.)