Auch wenn diese Sehnsucht sich lange nur als unbestimmtes Drängen nach Freiheit mitteilt. Auf dem spirituellen Pfad wandelt sich dieses Drängen mehrmals, bis es zur fundamentalen Verwandlung der Seele führt.
Nahezu jeder Mensch fragt sich irgendwann nach dem Sinn alles dessen, was ihm im Leben geschieht. Warum gelingt es ihm nur selten, seine Wünsche und Pläne zu verwirklichen? Ist er nicht frei?
Ein vielschichtiger Erfahrungsweg beginnt. Mit Mut und Kraft wird das Schicksal in die Hand genommen und versucht, zu erarbeiten oder sogar zu erzwingen, was erstrebenswert erscheint. Doch nach kürzerer oder längerer Zeit wird deutlich, dass der strebende Mensch an zahllose Grenzen stößt, die ihm sagen: Bis hierhin und nicht weiter! Dann können Enttäuschung und Verzagtheit über ihn kommen, aber es kann sich auch ein kleiner Funke neuer Kraft zeigen, der ihn anspornt, gerade jetzt weiter zu suchen.
Die Sehnsucht nach Erfüllung und Zufriedenheit beginnt sich zu wandeln, sie dringt tiefer ins Wesen ein und begegnet dort einem Verlangen ganz anderer Art, einem Heimweh nach etwas Unbekanntem und doch Vertrautem, als könne man sich an einen großen, erhebenden Traum nicht mehr erinnern. Ein Sehnen nach Klarheit und Begreifen steigt ins Denken auf und facht im Herzen den kleinen Funken neuer Kraft zu einem Feuer an. Im Licht dieses Feuers werden die Zusammenhänge des Daseins aufmerksamer betrachtet und neue Fragen gestellt. Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist das Ziel meines Lebens?
Um etwas erlösen zu können, muss es vorher gebunden sein. Es muss sich gefangen fühlen und sich befreien wollen. Wer in einen solchen Gemütszustand geraten ist, glaubt sich in erster Linie von Menschen gebunden oder auch von dem, was man "Schicksal“ nennt. Oft sieht er sich als Opfer fremder oder bekannter Kräfte, die auf ihn einwirken: Familie, Gesellschaft, berufliche Konstellationen, Politik … Er möchte unabhängig sein und fängt an, sich Gedanken über die Ursachen seiner Unfreiheit zu machen und wie er sie auflösen kann. Er untersucht seine Lebenssituation genauer und erkennt subtilere Bindungen: jene durch die eigene Persönlichkeit, durch ihr Wunsch- und Gedankenleben, durch Emotionen und Gefühle. In sich selbst entdeckt er Handlungsweisen und Mechanismen, die eigenständig reagieren, ohne dass er sie vernünftig überdacht und sich für sie entschieden hätte: Sie verfügen einfach über ihn.
Ein Gefühl von Gefangenschaft, Ausgeliefertsein, Ohnmacht und Hilflosigkeit macht sich breit. Jeder hat das in der einen oder anderen Form schon einmal erlebt. Man spürt nahezu körperlich Enge und Beklemmung, ein nicht durchatmen Können. Daraus erwächst ein übermächtiges Bedürfnis nach Luft in den Lungen, Freiheit, Licht, Bewegung – ja, nach Erlösung! Obwohl das Wort Erlösung auch in diesem Zusammenhang stark und aussagekräftig ist, spürt man doch vage, dass es in Wahrheit noch auf etwas ganz anderes hinweist, eine andere, viel tiefer liegende Gefangenschaft und eine andere, fundamentale Erlösung.
Je ernsthafter man sich mit diesem Gedanken beschäftigt, um so deutlicher erkennt man im eigenen Wesen zwei Impulse, die einander diametral gegenüberstehen. Und beide wollen verwirklicht werden. Der eine richtet sich auf das äußere Leben, die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste der Persönlichkeit, der andere aber kommt aus etwas Höherem, Heiligem, einer Lebenssphäre, die kaum benannt werden kann. Und doch fühlt sich der Mensch mit ihr verbunden, ja, er weiß innerlich, dass er auf geheimnisvolle Weise eins mit ihr ist. Diesem scheinbaren Widerspruch, fremd und doch vertraut zu sein, zu wissen und doch nicht zu wissen, widmet er jetzt sein Streben, denn er erkennt, dass allein von diesem Unerklärlichen – außerhalb und innerhalb seiner selbst – wirkliche Erlösung kommen kann.
Er beginnt zu ahnen, dass es nicht in erster Linie um die Freiheit oder Unfreiheit der Persönlichkeit mit ihren irdischen Problemen geht, sondern vielmehr um den tiefsten Wesenskern des Menschen – die schlafende göttliche Seele. Und sie ist es auch, die um Erlösung fleht. Sie liegt im menschlichen Herzen gefangen wie ein Samenkorn, das zwar alle Kräfte in sich trägt, aber ohne Licht und Nahrung wie tot ist.
Das Licht, das sie braucht, muss durch reine Sehnsucht aus dem göttlichen Lebensfeld zu ihr gezogen werden und sie erleuchten. Ihr Nährboden sollte das menschliche Herz sein, aber es ist vom Garten Gottes zum Schauplatz selbstsüchtiger Begehren geworden. In einem solchen Zustand kann das Herz für die Seele kein Nährboden sein. Doch dabei muss es nicht bleiben, denn die Möglichkeit zur Erlösung liegt im Herzen selbst beschlossen. Durch die Hingabe eines Menschen an das Erwecken des Samenkorns im eigenen Wesen, kann der Weg der fundamentalen Erlösung seinen Anfang nehmen, und die Wiedergeburt der göttlichen Seele beginnt.
Das Wissen um diesen Weg ist dem menschlichen Bewusstsein tief eingeprägt, auch wenn der Verstand erst wieder lernen muss, es zu akzeptieren und zu unterstützen. Wer sich mit reinem Verlangen diesem Prozess anvertraut, begibt sich auf einen ganz neuen Lebensweg. Er wird durch die erblühende Kraft der Seele von seiner Ichbezogenheit, das heißt von sich selbst, erlöst.
In den alten gnostischen Lehren heißt es: Der Mensch ist ein gefallener Gott und muss durch Selbstübergabe an den Geist und durch eigene Kraft in seinen einstigen Zustand zurückkehren. Wenn er sich dessen bewusst wird, kann er mit dem Weg der Erlösung beginnen. Es ist ein Weg aus vielen Schritten, auf dem Menschen wieder Götter werden können. Wenn sie ihm mit der Intelligenz des Herzens folgen, vollzieht sich eine Verwandlung ihres ganzen Wesens mit all seinen äußeren und inneren Aspekten. Bis in die Körperzellen hinein findet ein Verlöschen des alten Zustandes und ein Aufbau einer völlig neuen Existenz statt. Die wiedererwachte göttliche Seele erschafft sich für die Heimreise zum Ursprung ein neues Gewand. Diese Entwicklung nennen die Rosenkreuzer Transfiguration: Verwandlung alles dessen, was den irdischen Menschen ausmacht und bindet, in das, was er einst war und wieder sein muss. So kann der Gott in ihm erlöst werden und – mitten im Leben stehend – in die Einheit mit dem Geist zurückkehren.