Es gibt Aussagen, in denen er es selbst als "Posse“ und "unbedeutendes Werkchen“ abqualifizierte hat. Doch diese Behauptung könnte auch falsch sein und auf einem Übersetzungsfehler beruhen.
Es ist rund 400 Jahre her: Johann Valentin Andreae, Student der Theologie in Tübingen, beginnt um das Jahr 1604, an einem rätselhaften, romanartigen Text zu arbeiten. Der Titel lautet: "Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Anno 1459“ (auch: "Alchymische" oder "Alchimische" Hochzeit). Jedoch erst im Jahre 1616 erscheint dieser Text als dritte Schrift der so genannten klassischen Rosenkreuzer-Manifeste bei Lazarus Zetzner in Straßburg im Druck – anonym. Nichts deutet zunächst in der Öffentlichkeit auf Johann Valentin Andreae als Verfasser hin.
Erst rund 200 Jahre später wird die Verfasserschaft Andreaes an der "Alchymischen Hochzeit“ publik, und zwar mit der Herausgabe seiner Autobiografie durch David Christoph Seybold im Jahre 1799. Andreae hatte seine "Vita“ in lateinischer Sprache verfasst und zu Lebzeiten nicht veröffentlicht. Andreae bezeichnet das Werk hier als "ludibrium“, was von Seybold falsch als "Posse“ übersetzt wurde. Auf diesen Übersetzungsfehler stützt sich nun die bis heute überlieferte Legende, Andreae habe sein eigenes Werk als "Posse“ abgewertet und sich außerdem davon als "unbedeutendes Werkchen“ distanziert.
Die Posse, die keine war –
ein folgenschwerer Übersetzungsfehler
Erst 1987/88 wurde dieser Fehler aufgedeckt – durch Regine Frey-Jauns literaturwissenschaftliche Dissertation "Die Berufung des Türhüters“ an der Universität Zürich. Demnach ist das lateinische Wort "ludibrium“ nicht im heutigen Sinn als "Posse“ (oder "Spielerei“) zu verstehen – ein Wort, das einen stark abwertenden Charakter hat. Vielmehr verstand man im Zeitgeist Andreaes unter "ludibrium“ eine "literarische Kurzweil“ im Sinne eines kurzweiligen Textes zur Erbauung der Leser.
Im weiteren Verlauf des "Vita“-Zitats distanziert sich Andreae nicht etwa von seinem eigenen Werk, wie Seybold fälschlicherweise übersetzte, sondern vielmehr von der Flut ungeheuerlicher Schriften, welche die Veröffentlichung nach sich gezogen hatte. Mehr dazu in dem Artikel "Die vergessene Geschichte der Rosenkreuzer-Manifeste“.
Andreae machte mit seinen Veröffentlichungen den christlich-hermetischen Einweihungsweg, die Auferstehung des unsterblichen Menschen, einem breiten Publikum bekannt und setzte damit einen mächtigen spirituellen Impuls im alten Europa des 17. Jahrhunderts. Für die Masse der Menschen jedoch waren die Rosenkreuzer-Manifeste – insbesondere die Alchimische Hochzeit – bestenfalls eine märchenhafte Dichtung oder sogar Betrug. Bis heute dauert der Streit darüber an, ob die Manifeste Ausgeburten überbordender Phantasie oder Äußerungen der universellen Wahrheit sind, die hier im Gewand eines Mysterienspiels daherkommen.
Die universelle Wahrheit und das Opus magnum
Die universelle Wahrheit ist eine Strahlungsfülle, die überall und zu jeder Zeit anwesend ist. Sie schlägt sich zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen in verschiedensten Formen nieder und hat immer nur ein Ziel: in Resonanz zu treten mit dem innersten Geistkern des Menschen. Diese Resonanz ruft im Menschen eine Erinnerung daran wach, dass er selbst einmal im Licht der Wahrheit existiert hat und dass etwas in seinem Innersten dorthin zurück will.
Diesem göttlichen Wesenskern in sich selber wieder Gehör zu schenken, ihm zu folgen, ihn zum Leben zu erwecken, das ist für Rosenkreuzer die Berufung des Menschen, der vom Licht der Wahrheit getroffen werden konnte. Um diese Berufung geht es auch in der Alchimischen Hochzeit. Damit ist eine innere Umkehr und in letzter Konsequenz eine strukturelle Verwandlung der menschlichen Offenbarung verbunden. Die hermetischen Alchimisten des 17. Jahrhunderts deuteten diesen Prozess an als "Opus magnum“. Es geht dabei um die Herstellung "geistigen Goldes“, um das "Elixier des Lebens“ oder den "Stein der Weisen“.
Johann Valentin Andreae und der Tübinger Kreis
Die Alchimische Hochzeit des Christian Rosenkreuz ist ein von diesem Aspekt der Wahrheit inspirierter Text. Sie zeigt sich an dieser Stelle im Gewand einer "literarischen Kurzweil“ des 17. Jahrhunderts, niedergeschrieben von einem Mann, der zusammen mit seinen geistigen Brüdern Tobias Hess und Christoph Besold im "Tübinger Kreis“ einen wahren Sturm in den Köpfen und Herzen der Menschen seiner Zeit hervorrief. Gerhard Wehr schreibt dazu in seinem Buch "Das Erbe des Christian Rosenkreuz“:
"Die Wirkung, die diese Rosenkreuzerschriften auslösen, ist außerordentlich. Denn alsbald melden sich Interessenten, die dem geheimnisvollen Orden beitreten wollen, und es treten Konkurrenten und Gegner auf den Plan. Die Rosenkreuzerei wird zu einem schillernden, kaum zu definierenden Phänomen ...“
Die drei Tübinger Gefährten Johann Valentin Andreae, Tobias Hess und Christoph Besold bildeten zu ihrer Zeit einen geistigen Brennpunkt, in dem die Kraft der Wahrheit – die universelle Kenntnis Gottes, die Gnosis – sich offenbaren konnte. Joost Ritman schreibt dazu in seinem Buch "Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert“:
"In diesem Lichte können wir das Zusammensein in den Jahren 1607-1614 des ersten Kreises von Rosenkreuzerbrüdern, Tobias Hess (49), Christoph Besold (30) und Johann Valentin Andreae (21), erklären. Es geschah in der lebendigen Überschattung des Heiligen Geistes, ‘unter den Schatten deiner Flügel, o Jehova‘. Auf dieser Basis fanden die Gedankenaustausche statt, aus denen die Manuskripte der Fama Fraternitatis, der Confessio Fraternitatis und der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz entstanden.“
Der innere Schlüssel zum Mysterienspiel
Jan van Rijckenborgh hat in seinen Erklärungen zur Alchimischen Hochzeit den Schleier der Mysteriensprache gelüftet und die tiefe spirituelle Bedeutung dieses Werkes für den nach Wahrheit und Erleuchtung suchenden Menschen unserer Zeit dargelegt. Er macht deutlich, dass der Weg des Christian Rosenkreuz von jedem seiner Nachfolger selbst erforscht und gegangen werden muss – als ein innerlicher Prozess, der zuerst zur Transmutation der Seele und dann zur Hochzeit der Seele mit dem Geist führt.
Wer auf diesem Weg gefunden wird – an welcher Stelle auch immer –, hat den Schlüssel zum Verständnis des Mysterienspiels der Alchimischen Hochzeit in sich und kann von innen heraus verstehen, was seine Figuren, Bilder und Symbole ihm gerade in diesem Moment zu sagen haben.
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Literatur:
Jan van Rijckenborgh:
Die Alchimische Hochzeit von Christian Rosenkreuz, Band I und II
Rozekruis Pers, Haarlem 1967 und 1976
ISBN 90 6732 152 4 (Band 1, 3. Auflage)
ISBN 90 6732 056 0 (Band 2, 2. Auflage)
zum Bookshop des DRP Rosenkreuz-Verlages
Regine Frey-Jaun:
Die Berufung des Türhüters.
Zur "Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz“ von Johann Valentin Andreae (1586 – 1654); herausgegeben von Alois Maria Haas in der Reihe "Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700“, Band 3. Verlag Peter Lang, Bern 1989. Zugl.: Zürich, Universität, Dissertation 1987/88.
Gerhard Wehr:
J. V. Andreae und die rosenkreuzerischen Manifeste;
in: "Das Erbe des Christian Rosenkreuz".
Vorträge, gehalten anlässlich des Amsterdamer Symposiums 18. – 20. November 1986; Joost R. Ritman (Hrg.); Amsterdam, In de Pelikaan, 1988, ISBN 3-7762-0279-3
Joost R. Ritman:
Die Geburt der Rosenkreuzerbruderschaft in Tübingen;
in: "Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert".
Akten und Beiträge anlässlich des Kongresses Wolfenbüttel 23. – 25. November 1994;
herausgegeben von der Bibliotheka Hermetica, Amsterdam, In de Pelikaan, 2002, ISBN 3-7728-2206-1