Die Kraft zur Vervollkommnung ist prinzipiell vorhanden. Es bedarf aber eines bewussten Ichs, um diese Vollendung zu ermöglichen.
Paracelsus, Arzt, Philosoph und Alchimist aus dem 16. Jahrhundert, spricht von einer unteren und einer oberen Alchemie.
Die untere Alchemie ist eine traditionelle Handwerkskunst, die besonders in der Metallurgie schon vor unserer christlichen Zeitrechnung in Asien und Ägypten eine große Rolle spielte. Sie bewirkt Veränderungen in der Richtung vom unedlen Blei bis hin zum edlen Gold. Die untere Alchemie konnte aber nur zum Erfolg führen, wenn sie gleichlaufend mit der oberen Alchemie angewandt wurde.
Die obere Alchemie ist ein geistiger Werdeprozess, der aus dem natürlichen, sterblichen Menschen einen unsterblichen Geist-Seelen-Menschen erstehen lässt. Sie führt zu einer Bewusstseinsveränderung in eine überpersönliche, geistige Dimension, die über Zeit und Raum erhaben ist und aus der neue schöpferische Gestaltungen möglich werden.
Ein wahrer Alchemist ist ein Mensch, der fähig ist, die richtunggebende Gesetzmäßigkeit der Naturordnung wahrzunehmen, um sowohl die geistige als auch die natürliche Evolution in all ihren kreativen Spielarten und Gestaltungsmustern zu erkennen, damit er als Katalysator dieses Allgeschehens, als Mitbeweger in der göttlichen Alloffenbarung wirksam sein kann. Das meint Paracelsus, wenn er fordert: "Ihr müsst lernen, im Licht der Natur zu lesen.”
Ein spiritueller Prozess
Die wahre Alchemie ist also ein spiritueller Prozess. Die subtile Handwerkskunst wird gleichsam als ein den Sinnen zugängliches Ritual angesehen, das symbolhaft die eigenen Veränderungen und Läuterungen im Inneren des Menschen veranschaulicht. In diesem Sinne wurde die Alchemie von der Bruderschaft des Rosenkreuzes vom 17. Jahrhundert an als königliche Kunst betrachtet, als "opus magnum“ einer siebenfachen Wandlung – in der Retorte beobachtet und im eigenen Inneren erfahren.
Diese siebenfache Wandlung der Materie in der Retorte und der menschlichen Seele im eigenen Inneren verläuft in sieben Stufen, die in der klassischen Alchemie in einer bestimmten Reihenfolge beschrieben werden:
1. Calcinatio
2. Sublimatio
3. Solutio
4. Putrefactio
5. Destillatio
6. Coagulatio
7. Conjunctio
Moderne Autoren wie der Psychoanalytiker C. G. Jung definieren eine andere Reihenfolge. Dieser Artikel bezieht sich jedoch auf die Struktur der klassischen Alchemie.
1. Die Calcinatio – die Operation des Feuers
Im Labor findet eine Veraschung durch direkte Verbrennung statt, die die Materie verzehrt. In einer anschließenden Läuterung wird über einer gleichmäßigen Flamme, die nicht mehr versengt, die schwarze Asche in ein feines weißes Pulver verwandelt. Dieser Vorgang ist der Prozess der Albedo (Weißung) durch Calcination.
Auf der seelischen Ebene stellt die Calcination einen ersten Grad der Läuterung dar: Das Ego mit seinem feurigen Eigenwillen soll "verascht“ werden, damit ein geläutertes, der Seele dienendes Ego entwickelt werden kann. Dieses Werk kann natürlich nur vollbracht werden, wenn sich der Mensch für eine geistige Sinngebung in Einsicht geöffnet hat. In diesem Prozess ist die Opferung des Eigenwillens das befreiende Moment, das eine Transmutation des Bewusstseins ermöglicht.
Ein "unverbranntes“ Ego würde unweigerlich in die Imitation führen, die den betreffenden Menschen lange Zeit in ihren Fesseln hält und lähmt. Deshalb betont Paracelsus, dass ohne die Verwirklichung des ersten Grades, der Calcination, die weiteren Stufen des Werkes nicht vollbracht werden können.
2. Die Sublimatio – die Operation der Luft
Auf dieser Stufe wird das Feine vom Groben getrennt. Deshalb sprechen die Alchemisten von diesem Prozess auch oft von der Separatio. Aus der Asche des geopferten Eigenwillens erhebt sich gleichsam wie in einer Sublimation das gereinigte Element der "materiae mater“ – der reinen, jungfräulichen Seele, aus der die edlen Baustoffe zur Verwirklichung des Geist-Seelen-Menschen extrahiert werden. Die Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse des Menschen auf dieser Stufe werden dann von den feinen Seelenvibrationen gelenkt, die sich durch den Sublimationsprozess separiert haben und sich ihm als reines Bild mitteilen können.
3. Die Solutio – die Operation des Wassers
In der Retorte der Alchemisten wird ein fester Stoff in einer Flüssigkeit aufgelöst. Das Aufgelöste ist dann im Auflösenden enthalten. Die Solutio ist ein langsamer und lautloser Vorgang. Das Aufgelöstwerden im Wasser wird oft als das Ertrinken des "alten Königs“ – des Königs Ich dargestellt.
Auf dem inneren Seelenweg bedeutet die Solutio die vollständige Selbstübergabe, das Ertrinken des Ichs im Seelen-Selbst. Es ist das Prinzip "in Jesu morimur“ der klassischen Rosenkreuzer oder der Prozess des Endura in der heutigen Geistesschule des Goldenen Rosenkreuzes. Dieser Untergang des Ego in der Seele ist gleichzeitig Befreiung der Seele und Aufnahme in der Weltseele.
4. Die Putrefactio (die Fäulnis oder Verwesung) – die Operation der Erde
Im Prozess der Fäulnis wirkt ein mildes Feuer, das alle Bestandteile der Materie bis in die letzte elementare Ebene auflöst, zugleich aber auch einen neuen Beginn einleitet zu einer höheren Komplexität von Struktur oder biologischem Leben.
Dieser Akt der Putrefactio ist in der alchemistischen Namensgebung auch als Mortificatio bekannt und dauert nach alter Tradition 40 Tage unter vollständiger Abschirmung. Sehr deutlich ist dabei die innere symbolische Bedeutung in ihrer Parallelität zur seelischen Entwicklung zu sehen. Die Israeliten wanderten 40 Tage durch die Wüste auf der Suche nach dem gelobten Land. Jesus fastete 40 Tage in der Wüste, und es vergingen 40 Tage von der Auferstehung bis zur Himmelfahrt. Die Putrefactio ist ein Akt der endgültigen Deklaration. Jegliche Formen von Verführbarkeit und Relikte geschickter Imitation des Ego werden endgültig entlarvt und abgewiesen.
5. Die Destillatio
In der Alchemie spricht man auch vom Flüchtigmachen. Das, was subtil ist, wird aus der Flüssigkeit in einen neuen Aggregatzustand, den des Dampfes, erhoben.
Durch die in der Retorte übliche Rückdestillation wird dann durch Abkühlung der Dampf wieder "fix“ gemacht, indem er erneut in die flüssige Form zurückkehrt. Er nimmt das, was er von oben empfangen hat, mit und bringt es in die flüssige Form zurück. So bereichert er sie durch eine neue Information, ermöglicht eine Gefüge-Lockerung der materiellen Elemente und schafft so stufenweise eine weitere Verfeinerung in transmutierendem Sinne, also im Sinne einer Verwandlung. Der Prozess der Destillation im geschlossenen System wird häufig ritualisiert und 33 mal wiederholt.
Im Inneren des Menschen erhebt sich das, was subtil ist – die reine Seele – auf eine höhere Ebene, um sich mit dem Geist zu verbinden. Aus dieser Verbindung entsteht eine neue Information, ein neues Bewusstsein. Die Früchte dieses neuen Denkens müssen dann wieder zurückgebracht werden auf die natürliche Persönlichkeitsebene, um danach durch die Tat ihre Verwirklichung zu erfahren. Das, was von "oben“ mitgenommen wurde, muss nach "unten“ getragen und dort umgesetzt werden.
Der Destillationsprozess auf dem spirituellen Pfad ist eine sehr bedeutsame Entwicklungsstufe, da hier die Gefahr besteht, dass der Kandidat sich auf die Persönlichkeitsspaltung einlässt und versucht, seine subtilen Teile in geistige Ebenen zu erheben, ohne die notwendige Erdung seiner Intuitionen und Inspirationen vorzunehmen. Er ergibt sich gerne dem Prozess des Flüchtigwerdens, vergisst aber leicht die Bearbeitung der irdischen Attribute, die jeweils durch das "Fixmachen“ mit dem nötigen Geistfeuer durchlichtet werden müssen, damit die Selbsterkenntnis alle noch dunklen Schattenbereiche in die Umwandlung einbeziehen kann. Mit dem Fixmachen ist im seelischen Bereich die konkrete Manifestation der Erkenntnis durch die Tat gemeint.
Um den seelischen Prozess, der eine direkte Analogie des Destillationsvorganges ist, zu vollziehen, bedarf es der inneren Reife, und die vier vorausgegangenen Entwicklungsstufen müssen vollzogen sein. Nach vielen, immer wiederkehrenden "Destillationen“ ist eine höchstmögliche Purifikation erreicht, deren Frucht eine klare Geistesgegenwart ist, aus der eine völlig neue Lebenshaltung hervorgeht. Bei den Katharern sprach man diesbezüglich von den "Parfaits“, den Reinen. Von der Bruderschaft der Katharer, die Anfang des 2. Jahrtausends n. Chr. in Südfrankreich wirkte, ist bekannt, dass sie den Prozess der Seelenverwandlung vollzog.
6. Die Coagulatio
Dies ist ein Prozess der Neuschöpfung. Die Coagulatio stellt gleichsam die Gegenbewegung zur Destillatio dar: Durch vollständige Verdampfung des Lösungsmittels wird die ursprüngliche Formgestalt in einer neuen Weise wieder zur Darstellung gebracht. Durch die wiederholten Kreisläufe der Flüchtigmachung sind neue Informationen von "oben“ in die Lösung und ihren Rückstand eingegangen. Es bleibt also bei der Coagulatio eine erneuerte Materie übrig.
Übertragen auf die Seelenarbeit bedeutet die Coagulatio, dass die geistige Idee in die gereinigte und erneuerte Formgestalt hineinfließt. Es wird also ein neues Geschöpf aus der geistigen Idee, aus dem Urbild, mit Hilfe der erneuerten Seele zur Geburt gebracht. Das neue Bewusstsein erschafft sich einen neuen Lichtkörper. Das Baumaterial ist – wie die Alchemisten sagen – der "Tau des Himmels“; gemeint sind die reinen, unvergänglichen Ätherkräfte.
Überall dort, wo die neu erworbenen seelischen und geistigen Qualitäten nicht zur schöpferischen Tat führen, fallen sie erneut der Degeneration und Kristallisation zum Opfer.
7. Die Conjunctio
Die Conjunctio ist die Frucht der vorangegangenen verändernden Wandlungsstufen.
In der Retorte und im innerseelischen Prozess unterscheidet man eine kleine von einer großen Conjunctio. Die kleine Conjunctio führt zu einer Vereinigung der polaren Kräfte – in der Laborsprache: von Quecksilber und Schwefel. Sinnbildlich dargestellt, handelt es sich um eine Vereinigung von König und Königin, was viele Abbildungen des Mittelalters zeigen. Es ist die chymische Hochzeit zwischen dem Prinzip des geistigen Sulfur (Schwefel) – dem Bräutigam – und dem Prinzip des seelischen Merkur (Quecksilber) – der Braut. Aus dieser Einheit geht als Frucht der "Stein der Weisen“ hervor, der alles zur Vollkommenheit führt (tingiert). In dieser Vereinigung wurzelt auch die Tinktur: das Elixier, das alle Krankheiten heilt.
Auf der spirituellen Ebene bedeutet die kleine Conjunctio die Vereinigung der gegensätzlich wirksamen Zwillingskräfte in der Natur, die auf der höheren Ebene des Geist-Seelenzustandes in eine sich ergänzende Einheit zusammenfließen.
Die große Conjunctio – vollziehbar nur in der oberen Alchemie – ist die endgültige Vereinigung der Geistseele mit der schöpferischen ewigen Quelle. Dies findet in dem Christuswort "Der Vater und ich sind eins“ seinen unmittelbaren Ausdruck. In diesem Seinszustand wird der Mensch selbst zum Stein der Weisen, der jedes Geschöpf zu dessen Vervollkommnung "tingieren“ kann.
So versuchten die alchemistischen Bestrebungen der Rosenkreuzer, die untere und die obere Alchemie in eine Synchronizität zu führen, damit der Prozess des ewigen "Stirb und Werde“ – die fortlaufende Wandlung hin zum Vollkommenen – im gesamten kreativen Universum sich vollziehen kann. Zu ihrer geistigen Sohnschaft erwacht, stehen sie zu allen Zeiten bewusst im Fluss des ewigen Werdens und lassen ihre heilenden und heiligenden Kräfte in jedes Ding und jedes Wesen fließen, um die Entwicklung zu immer höheren und komplexeren Bewusstseinsstufen anzuregen.