Welches Mysterium verbirgt sich hinter diesem Namen?
Wenn man heute fragt: "Wer ist Christian Rosenkreuz?“, dann schließen sich fast zwangsläufig die Fragen an: "Hat dieser Mann tatsächlich gelebt?“ und "Wer sind die Rosenkreuzer?“ Die Beantwortung dieser Fragen setzt ein inneres Suchen nach Wahrheit voraus – nicht der tagesaktuellen Wahrheit eines Ja oder Nein zu historischen Sachverhalten – sondern der zeitlosen Wahrheit über das Wesen und das Ziel der menschlichen Existenz.
Rosenkreuzer im Goldenen Rosenkreuz erkennen in Christian Rosenkreuz ihr spirituelles Vorbild, ihren "Vater-Bruder“ und Ordensgründer, und gleichzeitig den Namen des Kraftfeldes, aus dem sie schöpfen. In den klassischen Rosenkreuzerschriften des 17. Jahrhunderts wird dieses Kraftfeld das "Haus Sancti Spiritus“ genannt. Diese Quellen der abendländischen Geistesgeschichte enthalten Hinweise, die einen Wahrheitssucher tief berühren können und vielleicht helfen, eine Tür zu intuitivem Erkennen zu öffnen. Damit befasst sich der folgende Artikel.
Wer auf die drei Urschriften der klassischen Rosenkreuzer stößt, sieht sich mit einer Fülle rätselhafter Symbole und Bilder konfrontiert. In den Manuskripten, die der Calwer Theologe Johann Valentin Andreae, Mitglied des so genannten Tübinger Kreises, in den Jahren 1614 bis 1616 veröffentlichte, ist von Christian Rosenkreuz und einer Rosenkreuzer Bruderschaft die Rede. Die Titel lauten:
Diese Schriften wurden von Jan van Rijckenborgh Mitte des 20. Jahrhunderts neu herausgegeben und kommentiert. Einige der Urtexte und Kommentare finden Sie auf dieser Website im Bereich Literatur.
Über Christian Rosenkreuz – von dem auch als Bruder CRC gesprochen wird – sind im Wesentlichen drei Berichte überliefert. Ein Bericht stammt von Rudolf Steiner, der zweite kann in der Confessio und der Fama nachgelesen werden, und der dritte ist die Beschreibung in der Alchymischen Hochzeit. Alle drei Berichte bedienen sich der Mysteriensprache. Das bedeutet, jedes Detail hat eine verborgene, spirituelle Bedeutung. Nichts in diesen Texten ist zufällig oder beiläufig.
In diesen Quellen wird Christian Rosenkreuz auf sehr unterschiedliche Weise dargestellt. Stets fallen jedoch seine große Bescheidenheit, Demut, herzliche Hingabe und Dienstbereitschaft auf. Er begegnet dem Leser sowohl als Gerufener, der trotz aller Schwierigkeiten seinen Weg geht, aber auch als leuchtende Personifikation des großen Ziels: der Auferstehung des unsterblichen Menschen.
Christian Rosenkreuz ist die Verkörperung einer geistigen Realität, der Prototyp des Menschen, der den christlichen Einweihungsweg geht, über den wir im Neuen Testament lesen: "Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.“ (1. Kor. 15, 43-44)
Rudolf Steiner berichtet in seinem Vortrag vom 27. September 1911 in Neuchâtel, dass Christian Rosenkreuz zum ersten Mal im 13. Jahrhundert im Verborgenen inkarniert. Er wächst im Geheimen auf, beschützt von zwölf Lehrern – zwölf Eingeweihten – , die ihn in das gesamte Mysterienwissen der Alten Welt einweihen. Sie projizieren gewissermaßen ihr gesamtes Wissen auf ihn und machen ihn damit zum lebenden Brennpunkt der Mysterien des Abendlandes.
Es ist in ihm eine vollkommen neue Synthese aller alten Religionen mit dem Christentum entstanden, die sich in seinem ätherischen Körper manifestiert. Dieses esoterische Christentum kann er als "Dreizehnter“ nun in die Runde der Zwölf zurückstrahlen und als höchste Weisheit lehren. Dieser Christian Rosenkreuz stirbt jung.
In der Mysteriensprache bilden zwölf Kräfte jeweils einen vollständigen Kosmos, die Fülle eines in sich geschlossenen Lebensfeldes. Dieses Bild begegnet uns unter anderem in den zwölf Tierkreiszeichen, die unseren materiellen Kosmos umschließen und aus deren Kräften wir als sterbliche Menschen leben.
Wenn dann weiter von einem "Dreizehnten“ gesprochen wird, so ist damit immer eine Kraftmanifestation aus dem nächst höheren kosmischen Gebiet gemeint, dem Gebiet jenseits der Zwölf. Christian Rosenkreuz als Dreizehnter inmitten der Runde der Zwölf ist die Inkarnation einer Wesenheit aus dem Lebensfeld der unsterblichen Menschheit, aus dem er mit einem bestimmten Auftrag in unser sterbliches Lebensfeld eintritt.
Um diesen Auftrag auszuführen, inkarniert CRC bereits 1378 wieder, wie in der Confessio berichtet wird. Jetzt muss er nicht mehr im Geheimen wirken, sondern tritt öffentlich unter dem Namen Christian Rosenkreuz hervor. Dem physischen Körper nach war er in der Zwischenzeit tot – sein unsterblicher Seelenkörper jedoch hat überdauert und ist lebendig wie zuvor. Deshalb steht die Fülle des Mysterienwissens aus der vorigen Inkarnation unversehrt und ohne Einschränkung zur Verfügung.
Einen Hinweis auf diese Zusammenhänge finden wir auch in der Fama, wo davon gesprochen wird, dass die Brüder nach 125 Jahren das Grab von A.C.R.C., also des ersten Christian Rosenkreuz, wieder entdecken und darin seinen vollkommen unversehrten Körper "in vollem Ornat“ vorfinden.
Was ist nun der Auftrag des Bruders CRC? Wir finden ihn in der Fama. Hier wird die Lebensgeschichte des Christian Rosenkreuz erzählt, der im Jahre 1378 wiedergeboren wurde. Es steht geschrieben, dass Bruder CRC in einem Kloster aufwächst und schon in jungen Jahren die arabischen Länder bereist. Zurückgekehrt nach Europa, bietet er seine geistigen Schätze den Mächtigen und Gelehrten Europas an. Sein Ziel ist eine vollkommene Reformation des Lebens.
Doch die Mächtigen und Gelehrten interessieren sich nicht dafür. Christian Rosenkreuz wird zurückgewiesen und gründet daraufhin einen Orden, die Bruderschaft des Rosenkreuzes. Die Ordensmitglieder erbauen gemeinsam das Haus Sancti Spiritus – so der Text der Fama. Aus diesem Bericht ist die Aufgabe des Bruders CRC deutlich erkennbar.
Das hermetische Mysterienwissen des Abendlandes war damals vor allem in den arabischen Ländern konzentriert, insbesondere in Ägypten und Kleinasien sowie im maurischen Kulturkreis. Deshalb bereist Christian Rosenkreuz diese Länder, um die gesamte aktuelle Weisheit der damaligen Zeit in sich aufzunehmen.
Nachdem die Elite Europas sich dafür nicht interessiert, versammelt er Menschen um sich, denen nicht die Ausübung von Macht oder das Anhäufen von Geld, äußerem Wissen und Ehre das Wichtigste im Leben ist. Er gründet seinen Orden mit Menschen, die ein ganz anderes Lebensziel haben. Dieses Ziel wird angedeutet mit dem "Bauen des Hauses Sancti Spiritus“. Was ist das für ein Haus? Für wen ist es bestimmt, und wer kann es betreten?
Das Haus Sancti Spiritus ist kein materieller Tempel, kein geografischer Ort. Es ist vielmehr ein Kraftfeld, ein Brennpunkt auf der Geist-Seelen-Ebene, wo Mensch und Geist sich begegnen können, ja wo sie am Ende zu einem einzigen, neuen Leben verschmelzen, genau so, wie es mit Christian Rosenkreuz selbst geschah.
Die Türen zu diesem Haus stehen weit offen für alle Menschen, die sich von innen heraus nach dem Geist sehnen, nach einer Existenz, die über Raum und Zeit hinausweist in eine andere, göttliche Realität. Das gilt unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Rassenzugehörigkeit, denn das Haus Sancti Spiritus ist als geistiges Haus für die gesamte Menschheit bestimmt. Geschlossen bleibt das Haus Sancti Spiritus jedoch für Neugierige.
Der dritte Bericht über Christian Rosenkreuz erzählt von seinen Erlebnissen während einer "Chymischen Hochzeit“. Die Bezeichnung "chymisch“ oder "alchimisch“ knüpft an die zu Andreaes Zeit weit verbreitete Kunst der Alchimisten an. Sie versuchten, unedle Metalle in Gold zu verwandeln, und zwar mit Hilfe des Steins der Weisen, auch Elixier des Lebens genannt. Dies war jedoch nur die äußere Ansicht der Alchimie.
Für die wahrhaft hermetischen Alchimisten ging es von Anfang an um den "Philosophischen Stein“, der zur Transfiguration führt. Das ist die große Verwandlung der Menschenseele, die Auferstehung eines neuen Körpers, den Paulus im 1. Korinther 15 als "unverweslich“ bezeichnet. In diesem Sinne ist denn auch die Alchimische Hochzeit zu verstehen. In diesem Buch wird der transfiguristische Einweihungsweg in Form einer allegorischen Erzählung dargestellt. Christian Rosenkreuz erhält an einem Abend vor Ostern von einem Engel eine Einladung zu einem alchimischen Hochzeitsfest. Es dauert 7 Tage und findet in einem Königsschloss statt.
Die Geschichte entführt den Leser am Anfang in einen Traum. CRC erlebt sich darin selbst in Gefangenschaft in einem dunklen Schacht, aus dem er durch das Ergreifen eines Lichtseils errettet wird. Nach vielen Abenteuern endet die phantastische Erzählung schließlich in der achten Turmkammer des "Turms von Olympus“, wo Christian Rosenkreuz das große Werk der Auferstehung, das alchimische "Opus magnum“, vollendet. Danach entschwindet er, aber nicht in die lichtvollen Sphären des göttlichen Lebensfeldes, sondern kehrt zurück zu seinen Mitgefährten in das Königsschloss.
Hier erfährt CRC, für welche Aufgabe er nun vorgesehen ist: Er soll die Arbeit des Torhüters verrichten, der den nachfolgenden Kandidaten den Weg weist. Ob Bruder CRC diese Arbeit wirklich antreten muss, bleibt am Ende offen, denn der Schluss des Textes lautet:
"Hier fehlen ungefähr zwei Quartseiten, und er, der Autor, ist, in der Meinung, am folgenden Morgen Torhüter sein zu müssen, heimgekommen.“
Man sagt von der Bruderschaft des Rosenkreuzes, sie stehe an den Toren zur Welt des Lichtes aus Liebe zur Menschheit mit dem Rücken zum Licht. Das bedeutet: Es ist die Aufgabe der Rosenkreuzer-Bruderschaft, der Menschheit zu dienen, die noch in der sterblichen Welt lebt, damit einmal jeder Mensch ein Lichtseil ergreifen kann und hinaufgezogen wird. Soviel an dieser Stelle zu der eingangs gestellten Frage "Wer sind die Rosenkreuzer?“
Abschließend noch einmal zurück zu der Frage: "Hat Christian Rosenkreuz wirklich gelebt? Was ist denn Leben, und was ist real? Gestalten wie CRC kommen von "Jenseits der zwölf“ in die Gebiete der sterblichen Natur. Sie kommen von der Bruderschaft der unsterblichen Seelen, die in einer anderen Naturordnung ihre Heimat hat. Ihr Auftrag ist es zu dienen, um ein Lichtseil in diese Welt herab zu bringen, ein "Haus Sancti Spiritus“ zu bauen.
Häufig sind die Berichte über ihr Leben und Wirken widersprüchlich – weil sich in den Überlieferungen Historisches und Allegorisches, Äußeres und Inneres, Materielles und Spirituelles zufällig oder absichtsvoll zu einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel vermischt haben.
Zu gegebener Zeit gehen solche Menschheitsdiener wieder zurück – meistens ohne bürgerliche Spuren zu hinterlassen –, um an anderer Stelle an ihrem Auftrag weiter zu arbeiten. Sie kommen und gehen, arbeiten und leiden aus Liebe zur Menschheit. Und unabhängig davon, wo sie gerade dienen: Sie leben immer fort, weil sie ihrer wesentlichen Art nach unsterblich und hier nicht zu Hause sind.
Wenn sich ein Wahrheitssucher dem Mysterium ihres Namens und ihrer Existenz nähern und das unentwirrbare Knäuel auflösen möchte, dann muss er sich selbst auf den Weg in die Welt der unsterblichen Seelen begeben.