Ein altmodisches Wort: Melancholie. Sagt man heute nicht besser "Depression“ und schluckt dann, möglichst diskret, seine Pillen und Tröpfchen? Die Zahl der "Depressiven“ wächst und wächst. Gibt es überhaupt noch Melancholiker? Nein – würden wohl die meisten Ärzte antworten.
Der Philosoph Romano Guardini (1885‑1968) setzt dagegen: "Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürften.“ Wie sehr er damit recht hat, kann am Fall des Philosophus teutonicus Jacob Böhme (1575‑1624) dargelegt werden.
In seinem großen Erstlingswerk "Aurora oder Morgenröte im Aufgang“, das 1612/13 erschien, bekennt Jacob Böhme, er sei nach langem Nachdenken schließlich "in eine harte Melancholie und Traurigkeit geraten, als ich anschaute die große Tiefe dieser Welt, dazu die Sonne und Sterne, sowohl die Wolken, dazu Regen und Schnee, und betrachtete in meinem Geiste die ganze Schöpfung dieser Welt.“
Wie kommt es, dass ein junger, angesehener Schuhmachermeister und geliebter Familienvater in eine solche Schwermut, dass ein akademisch ungebildeter Handwerker in einen philosophisch anmutenden Weltschmerz fällt? War ein so offenes Bekenntnis von Niedergeschlagenheit, ja Hypochondrie nicht etwas Ungehöriges?
Als ungehörig und sündhaft galt die Melancholie das Mittelalter hindurch; sie wurde sogar zu den sieben Todsünden gezählt. Als Acedia (griech.-latein., Trägheit des Herzens) war sie ein häufiges Thema in der theologischen Literatur, zum Beispiel bei Thomas von Aquin in der Summa Theologica (dort als Tristitia saeculi).
Die scharfe Verurteilung der Melancholie änderte sich mit dem Beginn der Renaissance, die in vielem mit dem Mittelalter brach. Die dabei leitende Frage war bereits in der griechischen Antike formuliert worden: Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, Melancholiker gewesen?
In der Früh-Renaissance (um 1489) wurde vor allem durch die Schriften des berühmten Florentiner Arztes und Philosophen Marsilio Ficino die Auffassung populär, die Melancholiker ständen unter dem Einfluss des Planeten Saturn, und das melancholische Temperament, eine Überproduktion von schwarzer Galle, entstehe durch anhaltende starke Gehirnaktivität – das sei eben ein Berufsleiden der geistig Arbeitenden. Therapievorschläge für Melancholie priesen spätestens seit Ficino die positive Wirkung von Poesie und Musik.
Es war also in den Tagen Jacob Böhmes schon ohne größeres Risiko möglich, sich als Melancholiker zu bekennen. Zu dieser "Liberalisierung“ hatte auch Martin Luther beigetragen, der selbst oft unter Schwermut litt. Die Melancholie erfuhr durch ihn und den Protestantismus des 16. Jahrhunderts eine weitere Umdeutung: Sie galt nicht mehr in erster Linie als Sünde, sondern als eine Versuchung seitens des Bösen, als Prüfung, die der Gläubige bestehen müsse.
Zeitweilig von Trauer und Schwermut angegriffen zu werden, erschien vor diesem Hintergrund als Beleg für die Ernsthaftigkeit des eigenen religiösen Ringens. Zahlreiche protestantische Trostschriften erschienen zu dem Thema und empfahlen zur Therapie Mittel wie Gebete und geistliche Lieder und – siehe Ficino – weltliche Zerstreuung durch Musik und heitere Gesellschaft.
Von solchen Schriften hat der junge Görlitzer Protestant Böhme gewiss die eine oder andere gekannt. Von ihnen mag sogar sein Verständnis des Phänomens Melancholie in seiner Selbstdiagnose geprägt worden sein. Aber haben sie ihm geholfen? Ganz offensichtlich nicht. Er brauchte und suchte stärkeren Trost als den durch Gesang, Musik und heitere Geselligkeit, denn der hellsichtige Mann litt zutiefst. Diese Leidenstiefe hatte ihre Gründe in mehr als nur einer Not und Bedrohung.
Böhmes Melancholie hängt zum Ersten mit dem sogenannten kopernikanischen Schock zusammen, den das 16. Jahrhundert erlitt. Er wurde durch die heliozentrische Lehre des Nikolaus Kopernikus ausgelöst, der zufolge – entgegen mittelalterlich-ptolemäischer Auffassung – die Erde sich nicht im Mittelpunkt des Weltalls befindet, sondern sich um die Sonne dreht. Die tiefe Irritation, in die gläubige Christen durch das neue Weltbild gerieten, schwingt in Böhmes Worten nach: " ... bin ich endlich gar in eine harte Melancholie und Traurigkeit geraten, als ich anschaute die große Tiefe dieser Welt, dazu die Sonne und Sterne ...“
Vor so unermesslicher Tiefe kann der "Himmel“ als Wohnung Gottes nicht mehr als endlich und örtlich bestimmbar gedacht werden, und im Ausblick in einen unmessbaren, unendlichen Weltraum erfährt der Mensch sich als winzig und unbedeutend. Infolge dieser Erkenntnis und des dadurch ausgelösten Schreckens droht der denkende Mensch ins Bodenlose zu fallen, wird sogar bis zum Zweifel an der Existenz eines Gottes getrieben.
Der englische Dichter John Donne zum Beispiel bezeugt die Ratlosigkeit der Zeit im Jahr 1611, als Böhme an seiner "Aurora“ arbeitete, mit folgender Feststellung: "Die neue Philosophie zweifelt an allem, das Element des Feuers wurde völlig ausgeschieden; die Sonne ist verloren, auch die Erde, und kein Mensch kann von seinem Verstand dorthin geleitet werden, wo er danach suchen soll. Und die Menschen gestehen frei, dass diese Welt vertan ist, da man unter den Planeten und am Firmament so viele neue sucht; dann wieder sehen sie, dass diese Welt in ihre Atome zerfallen ist. Alles liegt in Stücken, jeder Zusammenhang, jeder rechte Halt und Bezug ist dahin.“ (Anatomy of the world)
Aber nicht nur der Himmel war von epochaler Unsicherheit geprägt, auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit setzten Böhme zu. Das 16. Jahrhundert hallte wider vom Waffenlärm und von gegenseitigen Verfluchungen der miteinander ringenden katholischen und protestantischen Mächte. Der Konflikt mündete noch zu Lebzeiten Böhmes in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges.
Als drittes verursachendes Moment von Böhmes Melancholie kommt seine Theosophie des Sündenfalls infrage. Sein Blick in seine Zeit und ihre Geschichte belehrte ihn darüber, dass die einst aus Gott hervorgegangene Erde sich seit Langem nicht mehr im heilen Urzustand befindet: "Die äusserliche Erde ist ein bitterer Gestank und ist tot.“ Wie kam es denn vor Zeiten dazu? Böhme übernimmt hier die alte Lehre vom Sturz der Engel. "Herr Luzifer hat in seiner Erhebung die Kräfte der unreinen Natur also brennend, bitter, kalt, herbe, sauer, finster und unrein gemacht.“
Der Fall Luzifers, des Lichtträgers, den Böhme tief beklagt, ist nicht mit menschlich-moralischen Maßstäben zu messen. Es handelt sich um eine den ganzen Kosmos erschütternde Katastrophe. Hinzu kommt, dass auf dieser kosmischen Tatsache der nachfolgende menschliche Sündenfall gründet. Die Einsicht in die Tragik dieses Vorgangs, durch den die paradiesische Erde in ein "Trauerhaus des Todes“ verwandelt worden ist, hatte Böhmes Melancholie mitverursacht.
"Ich wollte auch gern etwas Höheres sehen in dieser meiner ängstlichen Gebärung, damit mein kranker Adam gelabt würde, aber ich sah mich in der ganzen Welt um und kann nichts entdecken. Es ist alles krank, lahm und verwundet, dazu blind, taub und stumm. Ich habe viele hoher Meister Schriften gelesen, in Hoffnung, den Grund und die rechte Tiefe darinnen zu finden; aber ich habe nichts gefunden als einen halbtoten Geist, der sich ängstigt zur Gesundheit, und kann doch um seiner großen Schwachheit willen nicht zur vollkommenen Kraft kommen.“
Böhme betrachtete "die ganze Schöpfung dieser Welt. Darinnen ich dann in allen Dingen Böses und Gutes fand, Liebe und Zorn, in den unvernünftigen Kreaturen wie in Holz, Steinen, Erden und Elementen sowohl als auch in Menschen und Tieren. Dazu betrachtete ich das kleine Fünklein des Menschen, was er doch im Vergleich zu diesem großen Werk Himmels und der Erden vor Gott möchte geachtet sein. Weil ich aber befand, dass in allen Dingen Böses und Gutes war, in den Elementen sowohl als in den Kreaturen, und dass es in dieser Welt dem Gottlosen so wohl ginge als den Frommen, auch dass die barbarischen Völker die besten Länder inne hätten und dass ihnen das Glück noch wohl mehr beistünde als den Frommen, ward ich derowegen ganz melancholisch und hoch betrübt, und konnte mich keine heilige Schrift trösten, welche mir doch sehr wohl bekannt war; [...]“
Die Erfahrung, dass Liebe und Hass, Böse und Gut, Sympathie und Antipathie miteinander verquickt und verbunden sind, kann wie bei Böhme zu tiefer Trauer führen. Diese Erfahrung kann dem Leben jeden vernünftigen Sinn nehmen. Denn dadurch wird klar, dass nichts in unserem Universum wahr und wirklich ist. Liebe, Güte, Leben und Nicht-Leben, so wie sie der Mensch erfährt, sind dann rein subjektiv zu verstehen; das heißt, sie werden vom Ego aus beurteilt und dessen Willkür unterworfen. Es spricht für Böhmes Tatkraft und Beharrlichkeit, dass er sich von seiner Melancholie nicht überwältigen ließ, sondern weiter um Erkenntnis und Einsicht in Gott, Welt und Mensch rang. Schließlich – im Jahr 1600, etwa ein Jahr nach seiner Heirat und bald nach der Geburt seines ersten Sohnes – wurde ihm der Sieg gewährt:
"Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist – den ich wenig und nicht verstand, was er war – ernstlich in Gott erhob als mit einem großen Sturme, und mein Herz und Gemüt samt allen anderen Gedanken und Willen sich alles darein schloss, ohne Nachlassen mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen, und nicht nachzulassen, Er segne mich denn, das ist: Er erleuchte mich denn mit Seinem Heiligen Geiste, damit ich Seinen Willen möchte verstehen und meiner Traurigkeit los werden – so brach der Geist durch. [...] alsbald nach etlichen harten Stürmen ist mein Geist durch der Höllen Porten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit und allda mit Liebe umfangen worden, wie ein Bräutigam seine Braut empfängt. Was aber für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden. Es lässt sich auch mit nichts vergleichen als nur mit dem, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, und vergleicht sich der Auferstehung von den Toten.“
In ekstatischem Erleben wird Böhme Erleuchtung zuteil. "In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen und an allen Creaturen, so wohl an Kraut und Gras, Gott erkannt, wer er sei und wie er sey und was sein Wille sei ...“ Er erfährt sich als auferstanden von den Toten, als neu- oder wiedergeboren im Inneren der Gottheit, und seine Seele ist von nun an genesen. Das von ihm verwendete Bild von Bräutigam und Braut steht für Christus und die reine Seele.
Böhme lässt keinen Zweifel daran, dass der Wiedergeburt ein geistiges Ringen vorangehen muss. Über den "alten Menschen“, der im Haus des Zornes und des Todes feststeckt, schreibt er: "Das sollst du aber wissen, dass er in steter ängstlicher Gebärung stecket und wollte des Zorns und der Bosheit gern los sein und kann doch nicht. Denn er ist wie das ganze Haus dieser Welt, da immer Liebe und Zorn miteinander ringet und gebäret sich immer der neue Leib mitten in der Angst. Denn also muß es sein, willst du aber von neuem geboren werden. Anders erreicht kein Mensch die Wiedergeburt.“
Der Mystiker Böhme weiß auch, dass diese Neugeburt des Christus-Menschen, "wenn hernach die Morgenröte in der Seele anbricht“, nur angedeutet, höchstens mittels symbolischer Worte bezeichnet werden kann. Sie zureichend deutlich beschreiben zu wollen, ist aussichtslos. Was sie wirklich ist, kann der Sucher nur in eigenstem Erleben, in seinem "Durchbruch“ erfahren.
Wen es also danach dürstet, von Melancholie, Weltschmerz und kräftezehrender Resignation zu genesen und wie Böhme einen Blick in die Tiefe des Seins zu tun, der muss den Pfad zu spiritueller Neugeburt und Erleuchtung beharrlich zu Ende wandern, denn – so der begnadete Schuster: "ohne Erleuchtung wirst du diese Geheimnisse nicht verstehen ... Darum, willst du eine offene Porte in die Gottheit haben, so musst du in Gottes Liebe wallen.“
Verwendete Literatur: