Bei Richard Wagner antwortet der Eremit auf die Frage Parsifals nach dem Gral: "Das sagt sich nicht. Doch bist du selbst zu ihm erkoren, bleibt dir die Kunde unverloren.“ Erkoren ist der Mensch, der den Gral in sich selber sucht und findet.
Das Wissen um den Gral, um das Mysterium der Unsterblichkeit, ist in jedem Menschen verborgen. Wenn in einem irdischen Leben aus innerer Erfahrung der rechte Zeitpunkt gekommen ist, dann nimmt dieses Wissen, bildlich gesprochen, die Gestalt eines Eremiten an. Es ist das Wissen, das im Herzen aufsteigt, wenn der Mensch aufgehört hat, den Schätzen dieser Natur nachzujagen und er anfängt, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Dieses Wissen führt den reif gewordenen Menschen dann zum zweiten Mal in die Gralsburg.
In Wagners Oper wird der Gralssucher Parsifal vorher noch einmal in Versuchung geführt. Der Bruder aus der Dunkelheit, Klingsor, lässt vor ihm einen Zaubergarten entstehen, in dem er von wunderschönen Blumenmädchen mit astralem Blendwerk umgarnt wird. Es ist die Sphäre der Begierden, die astrale Sphäre dieser Natur, in welcher der Fischerkönig Amfortas und andere umherwandernde Gralsritter einst der Verführung erlagen.
Für Parsifal ist das eine leichte Übung. In seinem Wesen gibt es keinen Anknüpfungspunkt mehr für die niederen Begierden, und so durchschreitet er den Zaubergarten unbeschadet. Doch so leicht kommt er nicht davon.
Kundry – die Versuchung
Jetzt tritt Kundry auf den Plan. Kundry ist eine Frau, die bei Richard Wagner in der Sphäre der Gralsburg als hässliche Alte auftritt, in der gewöhnlichen Welt jedoch als strahlende, verführerische Schönheit. Kundry verkörpert dasjenige im mikrokosmischen Wesen des Menschen, das auch "der Hüter der Schwelle“ genannt wird. Es ist die Zusammenballung aller Begierdenkräfte der sterblichen Natur in uns. An diesem Hüter der Schwelle muss jeder vorbei, der nachhaltig in die Sphäre der Gralsburg eintreten will. Der Legende nach wandert Kundry seit Amfortas' Verletzung in der Welt umher, um ein Heilmittel für seine Wunde zu finden. Doch welche kostbaren Essenzen sie auch herbeischafft - kein Mittel dieser Welt kann Amfortas heilen.
Auch Parsifal fühlt sich zunächst zu Kundry hingezogen. Sie schließt ihn in die Arme und zieht in herab zu sich. Fast wäre auch er ihrem Zauber erlegen. Aber als sie ihn küssen, sich also mit ihm verbinden will, öffnet das im Bruchteil einer Sekunde seine innere Schau. In einem visionären Augenblick erkennt er plötzlich, was Amfortas einstmals zugestoßen ist.
Er sieht das Leiden der Natur, die sich wie er selbst nach Erlösung sehnt, und erkennt seine Aufgabe durch tief empfundenes, schier unendliches Mitleid mit der geschundenen Kreatur. Er, einstmals der "reine Tor“, wird "durch Mitleid wissend“. Er stößt Kundry zurück. Doch durch den Weg in die Gralsburg, den er nun findet, wird auch sie erlöst von ihrer äonenlangen Wanderschaft und ihrer stets vergeblichen Suche nach einem Heilmittel für Amfortas, den Fischerkönig.
Der heilige Speer kehrt zurück
Amfortas konnte einst der Versuchung durch Kundry nicht widerstehen und wurde deshalb angreifbar. Der dunkle Bruder Klingsor, der den Weg zur Linken gewählt hatte, raubte ihm den Speer und schlug damit die unheilbare Wunde.
Jetzt, nachdem Parsifal seine Prüfung bestanden hat, schleudert Klingsor voller Wut den Speer nach ihm. Doch der Speer bleibt über Parsifals Haupt stehen, und er kann ihn als rechtmäßiger Besitzer ergreifen und mitnehmen in die Gralsburg, um Amfortas' Wunde damit zu schließen. Der Speer ist das Symbol für den Heiligen und heilenden Geist Gottes. Er ist das einzige Heilmittel für diese Wunde.
Amfortas kann nun endlich sterben. Parsifal ist durch die Begegnung mit Kundry "durch Mitleid wissend“ geworden. Seine reine, unsterbliche Seele hat das Leid der unerlösten Welt geschaut und ist nun bereit, in die Mysterien des Geistes einzutreten. Parsifal ist jetzt der Priesterkönig, der Geist-Seelen-Mensch, der für die Bruderschaft und für die Menschheit den Gral enthüllt, um das Licht Gottes als heilige Speise auszuteilen.
So endet die Legende in der Wagneroper. Doch dieses Ende ist das Ziel eines jeden wahren Gralssuchers - heute wie zu allen Zeiten.
Die Gralssuche eines spirituellen Menschen besteht heute darin, ein Leben zu führen, das auf die Wiedergeburt der unsterblichen Seele gerichtet ist. Es ist ein Leben, das auf den Weg der christlichen Einweihung führt, den Weg zum inneren Licht der Seele und des Geistes.
Lesen Sie die Fortsetzung:
Das Mysterium des Heiligen Grals, Teil 4:
Die Gralslegende um Joseph von Arimathia
Was vorher geschah:
Das Mysterium des Heiligen Grals, Teil 1:
Die Schlüsselfrage und die Vision des Hermes Trismegistos