Mit seiner Flöte vertreibt er die Ratten, entführt aber die Kinder. Der Rattenfänger von Hameln ist eine rätselhafte Gestalt. Die Sage über ihn lässt viele Sichtweisen zu, auch eine spirituelle.
Der Rattenfänger von Hameln ist eine der bekanntesten deutschen Sagen. Sie wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und es heißt, dass mindestens eine Milliarde Menschen sie kennt. Von Zeit zu Zeit und von Land zu Land wurde sie auf unterschiedlichste Art erzählt. In Hameln führt man sie im Sommer als Freilicht-Theaterstück auf und mit großem Erfolg sogar als Musical.
Doch wie bei allen Sagen, die in ganz verschiedenen Gewändern weitergegeben werden, gibt es auch beim "Rattenfänger“ Elemente, die immer gleich bleiben. Aber wie interpretiert man sie? Liegt der Schwerpunkt auf der Spannung wie beim Kriminalfilm? Auf der Bosheit der Ratten oder der Bürger? Auf der Rache des geprellten Rattenfängers? Oder auf der Trauer um die verlorenen Kinder?
Märchen und Sagen ertragen die unterschiedlichsten Sichtweisen, sie leuchten und blinken in jede Richtung wie ein Kristall. Und da das so ist, könnte man die Rattenfängersage auch so verstehen:
Die Stadt Hameln wird von Leid, Elend und Not heimgesucht, die als Ratten in den Häusern der Menschen ihr Unwesen treiben. Da kommt ein Fremder mit einer sonderbaren Flöte in die Stadt. Er erkennt, woran die Menschen leiden und will ihnen helfen. Damit sie sich aber an dieser Hilfe mit beteiligen und sie nicht nur stumpf entgegennehmen, fordert er einen Lohn für seine Arbeit. Den verspricht man ihm.
So beginnt der Rattenfänger, auf seiner Flöte zu spielen. Er zieht durch die Straßen und schaut den Menschen ins Gesicht. Die Kinder sieht er strahlen, denn die wundersame Melodie dringt bis in ihre Seele. Sogar Leid, Elend und Not kommen aus den Häusern gekrochen und geben ihre Herrschaft auf: Als Ratten folgen sie dem Lied der Flöte bis vor die Stadt, wo sie sich in alle Winde zerstreuen.
Die Menschen aber verweigern dem Rattenfänger den versprochenen Lohn. Ihr Problem ist gelöst, etwas anderes interessiert sie nicht. Sie wollen nicht verstehen, dass Leid, Elend und Not Gäste sind, die man selbst eingeladen hat. Sie wollen nichts über sich selbst lernen. Doch der Rattenfänger schaut hinter die sichtbaren Dinge und weiß, dass die Ratten Leid, Elend und Not zu Menschen, die nicht lernen wollen, zurückkehren.
Deshalb will er ihnen noch eine Chance geben; denn er liebt die Menschen. Und so beginnt er wieder, auf seiner Flöte zu spielen. Wenn in ihnen noch ein Fünkchen Reinheit steckt, denkt er, werden sie mit mir kommen. Doch die Menschen haben ihre Herzen der Selbstsucht geöffnet und können das Lied der Flöte nicht hören.
Aber die Kinder können es. Sie kommen von überall her angelaufen und folgen dem Rattenfänger. Und während sie mit ihm ziehen – weit in die Welt hinaus, in eine neue Heimat –, beginnen sie, seine Melodien mitzusingen. Denn ihnen wird bewusst, dass sie sie seit langem kennen.
Die Hamelner Bürger aber trauern um ihre Kinder. Und dadurch regen sich plötzlich Reue, Einsicht und Liebe in ihnen. "Der Rattenfänger wird wiederkommen und auch uns holen. Er wird uns zu unseren Kindern bringen“, sagen sie zueinander.
Und so geschieht es – heute, morgen und immer wieder.