Mit dem Phänomen Zeit ist ein Geheimnis verbunden. Obwohl der Mensch in der zeiträumlichen Ordnung lebt, gibt es etwas in ihm, das sich gegen diese Gebundenheit auflehnt. In Indien beispielsweise wird Zeit abhängig von dem jeweiligen Bewusstsein des Menschen erlebt.
Wir als an die materielle Welt gebundene Menschen sind den Gesetzen von Aufgehen, Blühen und Vergehen unterworfen, werden geboren und sterben in der Zeit. Unsere Vorstellungen über Zeit beeinflussen unser Weltverständnis, unsere Lebenserfahrungen und unsere Erwartungen für die Zukunft. Und doch ist da etwas in uns, das sich gegen diese scheinbare Selbstverständlichkeit auflehnt.
Dieses Paradoxon hat die Menschen aller Zivilisationen schon vor Urzeiten beschäftigt. Und obwohl wir alle in der selben zeiträumlichen Ordnung leben, sind die Menschen verschiedener Kulturkreise dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gekommen.
In der indischen Tradition wird Zeit abhängig vom Bewusstseinszustand des Menschen erlebt. Infolge dessen existiert Zeit nicht objektiv, sondern subjektiv, und es gibt Zeitzustände in vielfältigen Variationen. So verwundert es nicht, dass für das westliche Verständnis Chronologien in Indien höchst unzuverlässig sind und die meisten historischen Ereignisse einfach "vor sehr sehr langer Zeit" eingeordnet werden. Zeit bildet kein objektives Raster als Hintergrund für die Welt, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil der Welt. Die Welt ist nicht in der Zeit, sondern die Zeit ist in der Welt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich diese Vorstellung auch in den Verbformen des Sanskrit niederschlägt. Sie drücken vordergründig nicht Zeitrelationen aus, wie dies zum Beispiel im Deutschen ist. Die Zeit als solche spielt für das indische Denken keine wesentliche Rolle. Alles Handeln bewegt sich in der Gegenwart. Wichtiger als der aktuelle Zeitpunkt eines bestimmten Handelns ist die Art, wie es ausgeführt wird. So ist etwa das Wurzelwort für tragen "bhar“ und der hieraus abgeleitete Stamm "bhara“ nicht einfach nur der Sammelbegriff für die Tätigkeit "tragen“, sondern es wird durch Abwandlungen des Stammes unterschieden, ob es möglich, beabsichtigt oder verboten ist, ob es gern getan wird, seine Notwendigkeit hat oder Sinnlosigkeit ausdrückt.
Äußere Ereignisse werden von der Zeit beherrscht. Alles, was geschieht, wird von der Zeit gleichsam registriert. "Der Tod verwaltet das Gesetz der Zeit.“ Das, was vorangeht, ist die Ursache, und das, was folgt, ist die Wirkung. Diese Abläufe fallen in der indischen Tradition in den Strom der "profanen Zeit“, der folgerichtig von der Gegenwart in die Zukunft führt.
Gleichzeitig jedoch gibt es noch einen anderen Zeitstrom, der von der Gegenwart in die Vergangenheit (im Sinne von Ursachen) führt, oder, wenn man so will, in einen "über-zeitlichen“ oder "all-zeitlichen“ Zustand. Im profanen Leben beeinflusst die Gegenwart die Zukunft, hat aber keinen Einfluss auf die Vergangenheit. Dies entspricht der Form des Zeit-Vektors. Die Menschen können den Zustand der Dinge nur an einem bestimmten Punkt des Vektors beeinflussen – in der Gegenwart, nicht aber deren weitere Entwicklung und deren Ende, die sich in der Zukunft verlieren.
Im Zustand der "geheiligten Zeit“ ist das genau umgekehrt. In den Strom der geheiligten Zeit gelangt der Mensch durch den Bewusstseinszustand des "tiefen Verständnisses“. Das tiefe Verständnis beendet die Unwissenheit. Leid und Unwissenheit haben keinen Anfang – sie waren in der zeitlichen Schöpfung immer da, wie Buddha sagt –, aber sie haben ein definiertes Ende. Das verkehrt das Bild des Zeitvektors quasi in sein Gegenteil.
"Das eigentümliche tiefe Verständnis erläutert die Vergangenheit, zerstreut jede Unwissenheit, enthüllt die Harmonie der eingeschränkten Erfahrung und beeinflusst so die Vergangenheit. In diesem Kontext ist die Erleuchtung unmittelbar und mühelos, doch die Glut der Erleuchtung kann sich lange Zeit ausdehnen, vielleicht ein ganzes Leben lang. Die Wahrnehmung von solch gegenläufigen Momenten geschieht in "geheiligter Zeit".
Man kann sich dem Verständnis der "geheiligten Zeit“ von verschiedenen anderen Richtungen nähern, zum Beispiel von Seiten der persönlichen Erfahrung. Jeder Mensch, auch der moderne westliche, hat bereits eigene Erfahrungen mit mehreren Zeitzuständen. In der indischen Tradition werden diese Zustände jedoch mit eigenen Begriffen belegt.
Wir kennen den Wachzustand unseres Bewusstseins (jagrat), den Schlafzustand im Traum (svapna) und den traumlosen Tiefschlaf (susupta). Die Essenz dieser drei Zustände ist vorstellbar als ein gefühlter vierter Zustand (turiya). Dieser Zustand entspricht dem der "geheiligten Zeit.“
Der Eintritt in den Zustand der geheiligten Zeit erfolgt niemals zufällig oder beiläufig, sondern ist das Ergebnis eines Bewusstseinsprozesses. Dieser Prozess setzt voraus, dass der Mensch die drei zeitlichen Bewusstseinszustände, welche für ihn die Koordinaten der dreidimensionalen Welt bilden, bewusst durchlebt, integriert und letztlich transzendiert. Die so erwachsende Quintessenz bildet die vierte Dimension des Seins, den Zustand der Zeitfreiheit, in der alles zur reinen Gegenwart wird.
Der Philosoph und Kulturanthropologe Jean Gebser hat sich in seinem Werk "Ursprung und Gegenwart“ mit dieser Thematik eingehend auseinander gesetzt. Er entwirft darin das Bild eines neuen menschlichen Bewusstseins, das er "aperspektivisch“ oder "integral“ nennt. Dieses Bild entspricht in vieler Hinsicht der indischen Auffassung des "tiefen Verständnisses“ in der geheiligten Zeit.
Im Zustand des integralen Bewusstseins nimmt der Mensch die Welt in ihren Grundlagen wahr und ist nicht mehr ausschließlich an die Erlebnis-, Erfahrungs- und Vorstellungswelt der Welt gebunden. "Wer sich der Fundamente bewusst wurde, ist nicht mehr durch die Mannigfaltigkeit, Veränderlichkeit oder Fixiertheit der aus ihnen hervorgehenden Formen verwirrbar. Wer die drei bisher jeweils grundlegenden Zeitformen realisierte und damit zu konkretisieren vermochte, steht bewusst in der Vierdimensionalität.“
In der Mudakya Upanishad wird dieser Zustand in einem aphoristischen Bild beschrieben. Zwei Vögel, die in Freundschaft verbunden sind, umkreisen die Äste des selben Baumes. Der eine lässt sich nieder und isst die Früchte des Baumes. Der andere, ohne zu essen, schaut von oben herab. Der erste nimmt teil an der profanen Zeit, während der zweite im Zustand der geheiligten Zeit das Ganze erschaut. Der Vogel gilt seit jeher als Symbol der Seele. Hier steht der erste Vogel für die individualisierte Menschenseele, der zweite für die Weltseele.
In der Bhagavadgita gibt es ein Gespräch zwischen Prinz Arjuna und Gott Krishna, seinem Ratgeber. Es findet statt, bevor die feindlichen Armeen anhalten, um den Kampf zu beginnen. Krishna spricht: "Ich bin das innere Selbst aller Geschöpfe. Ich bin der Anfang, die Mitte und das Ende." (X, 20) Nach einem Blick auf die allumfassende Gestalt Krishnas spricht Arjuna: "Viele Hände, Körper, Münder, Augen, ich sehe euch überall: endlose Gestalten. Weder Anfang, Mitte, Ende noch Quelle für dich, Herr des Universums, ich sehe deine universale Gestalt.“ (XI, 16) Darauf antwortet der Herr: "Ich bin tatsächlich die Zeit, die die Erde auflöst....“ (XI, 32)
Man kann auch sagen: Das Ende der Zeit ist das Ende des Leidens. Das Ende des Leidens beendet auch den Zustand der inneren Auflehnung gegen die Zeit, weil der Mensch dann in einer neuen, göttlichen Existenz aufersteht, die nicht mehr an Zeit und Raum gebunden ist.
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Literaturquellen:
Heinrich Zimmer: Indische Mythen und Symbole
Sudarshan: Zeit in der indischen Tradition
Helmuth von Glasenapp (Hrg.): Upanishaden - Die Geheimlehre der Inder