Der Drang, Sinn und Ursprung des Daseins zu begreifen, scheint dem Menschen angeboren. Die Anhänger der orphischen Lehre fanden im 7. Jahrhundert vor Christus eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung.
Die Frage nach dem Ursprung des Seins hat Menschen aller Zeiten bewegt. Das zeigt sich auch in der Wissenschaft, die versucht, den Ursprung der Welt, ihre Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, zum Beispiel durch die Urknalltheorie, die Erforschung von Materie und Antimaterie oder die Relativitätstheorie zu erklären.
Die Anhänger der orphischen Lehre führten ihr Mysterienwissen auf die Schriften des Orpheus zurück – jenes berühmten Sängers der griechischen Mythologie, der durch seinen Gesang die Götter der Unterwelt betörte, um seine Braut Eurydike von den Toten zu erwecken. Nach der orphischen Lehre trägt der Mensch Göttliches und Gutes in sich – von Dionysos –, aber auch Böses und Verwerfliches von den Titanen. Die im menschlichen Körper eingekerkerte Seele kann ihr Gefängnis nur durch Einhaltung der orphischen Lebensweise und nach mehreren Wiedergeburten verlassen. Dann kann sie in ihre ursprüngliche Heimat, ins Göttliche, zurückkehren.
Vor diesem Hintergrund entstanden auch die folgenden Zeilen des griechischen Komödiendichters Aristophanes (der etwa 400 Jahre vor Christus lebte), welche die Entstehung der Welt beschreiben:
„Da gebar im weiten Schoß des Erebos,
die schwarz geflügelte Nacht
das windentsprungene Ei;
und diesem entsprang in der Zeiten Lauf
der ersehnte Eros
strahlend mit goldenen Flügeln.“
Das Ei als vollkommene Form
Der Bedeutung dieser heute rätselhaften Zeilen kann man sich nähern, wenn man in die Mythologie eintaucht. Als Urgrund allen Lebens galt den Griechen des Altertums "Nyx“, die Göttin der Nacht. In ihrer Undurchdringlichkeit ist sie wie das Nichts. Die Nacht der Urmaterie wird bewegt von "Aitir“, der dynamischen Kraft des Geistes. Das hervorbringende Prinzip wird in Bewegung gebracht, wird befruchtet. So entsteht das Welten-Ei. Das Ei gilt als vollkommene Form, als die Urform aller Dinge vom Atom bis zur Weltkugel.
Das Welten-Ei der orphischen Überlieferung bringt Eros hervor, den zweigeschlechtlichen Gott der ewigen Liebe, auch Protogonos genannt, der "Erstgeborene“, der göttliche erste Mensch. Goldene Flügel symbolisieren die Verbindung mit der göttlichen Kraft, aus der er lebt und wirkt. Doch, so berichtet die orphische Überlieferung weiter, das Welten-Ei wird umwunden von einer Schlange, durch die es in zwei Teile zerbricht. Aus der vollkommenen Form entsteht ein zweigeteilter Kosmos, der weitere Formen und Wesen hervorbringt, beginnend mit Gaia, der Erde.
Von der göttlichen Ordnung zur Notordnung
Auch heute wird viel über die Entstehung der Welt gerätselt. Geht man von der orphischen Antwort auf diese Frage aus, dann ist die Ursubstanz eine ungeformte, stille Energie des Urbeginns. Man kann sie "dunkel“ nennen, weil sie keine Form kennt. Man kann sie "Chaos“ nennen, weil sie keine Ordnung kennt. Doch in ihr lebt das Potenzial für die Entwicklung allen Seins. In dieses stille Feld dringt die göttliche Kraft ein als starke, konzentrierte Energie. Sie wirkt dynamisierend, formgebend und ordnend auf die Ur-Energie ein. Diese erhält dadurch eine Richtung und eine Ordnung, erfährt also Konzentration und Bündelung.
Es entstehen Kraftfelder, Energiesysteme, in denen die Kräfte der Ursubstanz um den ordnenden Mittelpunkt göttlicher Impulse kreisen. So war der ursprüngliche Mensch eine Konzentration reiner Energien, die um einen aus göttlicher Kraft gebildeten Mittelpunkt kreisten. Das System Mensch stand im dynamischen Austausch mit der göttlichen Kraft.
Wegen des eigenwilligen Umlenkens der Energien durch den Menschen wurde die ursprüngliche Ordnung gestört, entstand eine andere Ordnung. Der Prozess des Umleitens der Kräfte ist in Aristophanes’ Gedicht symbolisch dargestellt durch die Schlange. Der vertikale Gottesstrom durchkreuzt unaufhörlich den horizontalen Energiefluss der Schlangenkraft. Die göttliche Kraft kann nicht mehr in der ursprünglichen Weise mit ihrer Schöpfung in Verbindung treten. Anstelle der göttlichen Ordnung des Urbeginns ist eine andere Ordnung, eine aus der Not geborene Ordnung, in Kraft getreten.
Sehnsucht nach den Flügeln des Geistes
Der Mensch ist Bestandteil einer Welt der Vielheit, sie wird bestimmt durch die Vergänglichkeit. Doch in seiner Seele lebt die Sehnsucht nach den goldenen Flügeln des Geistes – so sahen es die Orphiker. Das Wissen um diesen Zustand des Menschen war ein zentraler Bestandteil der orphischen Lehre und schwingt in den Worten eines orphischen Textfragmentes mit: "Wie kreisen sie in der Unendlichkeit des Weltalls, wie wirbeln sie und suchen sie sich, diese unzähligen Seelen, die aus der großen Weltenseele hervorquellen! Sie fallen von Planet zu Planet und weinen im Abgrund um die verlorene Heimat ...“
Doch um in die Heimat zurückkehren zu können, muss die Seele das Wasser aus der Quelle der Mnemosyne, der Göttin der Erinnerungsgabe, trinken, heißt es in der griechischen Mythologie. Dann kann die Seele sich wieder mit den Kräften des Geistes füllen, bis sie im reinen Gold des ursprünglichen Menschen leuchtet. Die Anhänger der orphischen Lehre sahen ihre Aufgabe darin, einen Weg zu gehen, der diese Verbindung der Seele mit dem ursprünglichen Geist ermöglichte.
Der Weg konnte aber nur gefunden werden, wenn sich der Kandidat verloren fühlte in dieser Welt, eine tiefe Sehnsucht in ihm aufstieg nach den goldenen Flügeln des Geistes und er der Erinnerung an das ursprüngliche göttliche Zuhause folgte. Er musste sein ganzes Leben in den Dienst dieses Weges zurück nach Hause stellen.
Vertrauen in das Göttliche
Das Wissen um die göttliche Heimat des Menschen ist zwar uralt, aber es kann sich auch heute noch in einem Menschen Bahn brechen. Das ist der Moment, in dem der Mensch das Empfinden verspürt, in der Fülle seines Lebens mit leeren Händen vor dem Nichts zu stehen. Er steht wie in dunkler Nacht; doch in diese Nacht dringt nun ein Blitz der Wahrheit. Der Mensch versteht für den Bruchteil einer Sekunde Aufgabe und Sinn seines Lebens - allen Lebens.
Damit ist der Grundstein zu einer elementaren Veränderung gelegt. Ein solcher Mensch erkennt die Möglichkeit einer vollständig anderen Lebensrichtung. Das Licht der Wahrheit lässt ihn das Wesen der Dunkelheit noch tiefer empfinden, gleichzeitig zeigt es ihm, dass ein Weg aus der Dunkelheit hinausführt. Das Vertrauen in das uralte göttliche Kernprinzip leitet solch einen Menschen auf dem Weg. Wer sich diesem Prinzip anvertraut, den führt es aus der Vielheit in die All-Einheit. Diese Umwandlung hat Rainer Maria Rilke in seinem Gedichtzyklus "Sonette an Orpheus“ beschrieben:
„Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.“