Dem spirituellen Menschen erscheint der Berg als Orientierungspunkt, als ein Ort der Kraft und als höchster Punkt seiner Ausrichtung.
Sehnsucht nach der Höhe
Jeder kennt diesen Moment auf einer Bergwanderung, wenn er zum ersten Mal vor dem Bergmassiv steht und beeindruckt ist von seiner Größe und Höhe. Der Mensch fühlt sich angezogen, möchte den Gipfel besteigen, oben stehen und herausgehoben sein - weit über seinen eigenen Standpunkt hinaus.
Unten am Fuß des Berges fühlt sich der Wanderer klein. Aber er weiß: Er kann den Berg besteigen, alles Kleine und Niedrige verlassen, denn mit Kraft und Ausdauer schafft er es – auch bis zum höchsten Gipfel. So gilt der Berg in vielen Religionen als Symbol. Er wird zum heiligen Berg, denn er verbindet in seiner bildhaften Bedeutung das Niedrige mit dem Hohen, das Menschliche mit dem Göttlichen.
Der Berg – Symbol für den Sitz der Götter
Alle Länder und Kontinente haben ihre heiligen Berge. Bereits in den ältesten überlieferten Aufzeichnungen finden sich genaue Schilderungen dieser heiligen Berge und Hinweise auf ihre Bedeutung. In den indischen Schriften ist der Berg Meru der "Nabel der Welt“, und der Hinduismus kennt den "Mahameru“ als den "Großen Weltenberg“. Alte buddhistische Schriften bezeichnen den Kailash im Himalaja als "Meru“. Der Kailash gilt Hindus und Buddhisten gleichermaßen als Mittelpunkt des Universums.
Das altiranische Avesta, die Botschaft Zarathustras, berichtet vom Hara Barzaiti. Dieser Berg umschließt die Welt, und um seinen Gipfel kreisen die Sterne, der Mond und die Sonne. Der Name ist noch heute im iranischen Elburz-Gebirge erhalten. In Afrika verehren die Menschen schon von alters her den Kilimandscharo, den höchsten Berg des Kontinents. "Kilima-njaro“ bedeutet in der Sprache der dort lebenden Wachagga "Haus Gottes“, und sie erzählen, dass sein Gipfel über alle Vergänglichkeit erhaben ist. Auch der griechische Olymp ist als Sitz des Göttervaters Zeus und der übrigen Götter bekannt. Und der Parnass gilt in der Mythologie der Griechen als Wiege der Menschheit.
Der Berg in der Bibel
Auch in der Bibel finden viele Ereignisse auf einem Berg statt. Moses empfängt die göttlichen Gesetzestafeln auf einem Berg. Jesus versammelt seine Jünger auf dem Berg, um ihnen die Bergpredigt zu übertragen, die eine vollständige Richtschnur und Wegweisung für die Jünger ist. Der Kreuzgang Jesu führt nach Golgatha, auf die "Schädelstätte“, worin ein Hinweis auf die symbolische Bedeutung des Berges für den spirituellen Prozess im Menschen verborgen liegt.
Das Niedrige überwinden
Unsere heutige Welt ist weit weniger mythisch, als sie es in früheren Zeiten war. Dennoch üben Berge eine große Anziehungskraft auf viele Menschen aus. In fast allen Ansichten des Lebens spiegelt sich die Sehnsucht nach Aufstieg, nach Höhe und Größe, nach Überwindung des Irdischen. Immer gibt es Ziele, zu denen man aufsteigen möchte, um herauszuragen und den eigenen Horizont zu erweitern. Aber die Erfahrung in der Welt der Materie führt zu einer Grenze. Denn wenn jeder Berg der Welt bestiegen worden ist, stellt sich am Ende die Frage: "Ist jetzt der höchste Punkt der Welt, sprich der des Lebens, erreicht?“
Der Aufstieg
Für den spirituellen Mensch ist der Berg ein Orientierungspunkt, ein Ort der Kraft, der höchste Punkt seiner Ausrichtung. Eine Begegnungsstätte mit dem Höchsten. Er möchte hinaufsteigen in seinen Gedanken, in seinen Wünschen, in seinem Sein. Das bekannte Wort "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt“ beschreibt diese Verbindung von Mensch und Berg. Hier ist der Mensch, der weiß, wie weit er von der höchsten Bergspitze entfernt ist; und dort ist der Berg, der den Himmel berührt, der als Symbol für die höchste himmlische Kraft gilt, die alles umschließt.
Dieser höchste Punkt steht über allen niedrigen Dingen, er ist weit entfernt, und doch beginnt der Pfad zu ihm direkt vor dem Menschen, der seine Augen mit der Frage zum Gipfel erhebt: "Was kann ich tun, um zu dir zu gelangen?“ Die Antwort des Berges ist einfach: "Den Aufstieg beginnen.“
Der Pfad zum Gipfel
Wenn ein Mensch sich dann auf den Weg zu seiner inneren Bergbesteigung begibt – innen heißt hier, ein Bewusstsein für die spirituelle Selbsterfahrung entwickeln – , kann er Freude und Kraft erfahren, aber auch Phasen von Müdigkeit und Zweifel. Tiefe Einsicht lässt ihn jedoch seinen Zustand als einzig möglichen Ausgangspunkt für den Aufstieg akzeptieren.
Wenn er durchhält, erfährt er immer wieder die helfende Kraft aus der Höhe. Eine nie gekannte Klarheit erfüllt ihn und schenkt ihm einen weiten Blick über die Welt und sein Leben, das er jetzt aus einer ganz anderen Perspektive wahrnehmen kann als zuvor. Mit dieser Zuversicht kann er die letzten Schritte zum Gipfel gehen, zum Wohnsitz Gottes, den er als einen Ort in sich selbst, in der Tiefe des eigenen Wesens, erkennt.
Und dort ganz oben über sich selber stehend begreift er, dass das Niedrige mit dem Höchsten verbunden ist, nämlich das Menschliche mit dem Göttlichen. In diesem Moment kann eine neue Bergbesteigung beginnen, denn der Heilige Berg ist zwar ein Endpunkt, gleichzeitig aber auch der Beginn einer großen Wanderung: der Rückkehr zu Gott.